Jeder, der sich mit Comicbüchern nicht auskennt, wird nicht glauben können, dass irgendetwas aus Comicbüchern wissenschaftlich korrekt ist. Tatsächlich kann man aber viel über die Wissenschaft von ihnen lernen“, so der Physiker James Kakalios in seinem Buch „The Physics of Superheroes“. Tatsächlich wurden die meisten Superheld*innen und ihre Superkräfte schon mehr oder weniger wissenschaftlich erklärt. Woher kommen die Superheld*innen? Woher haben sie ihre Superkräfte? Kann es Superheld*innen auf unserem Planeten tatsächlich geben? Sowohl James Kakalios als auch Robert Weinberg haben versucht, solche Fragen in ihren Büchern zu beantworten. Es mag verwunderlich sein, aber nicht jeder Comic-Buchautor lag mit seiner fiktionalen Wissenschaft komplett daneben. Vieles, das in alten Comicbüchern aus den 1950er-Jahren geschrieben steht, ist auch heute noch gültig. Zu dieser Meinung ist auch Robert Weinberg gekommen; er schreibt in seinem Buch: „Das Mögliche ist, wie wir sehen werden, oft viel faszinierender als das Unmögliche.“
Um die Wissenschaft hinter Superheld*innen zu verstehen, muss man zu Beginn auch etwas über ihre Geschichte erfahren. Diese ist nämlich eng mit dem Zeitgeist und den Problemen ihrer Leser*innen verknüpft. So lassen sich alle klassischen Comics in vier Zeitalter eingliedern: Golden Age (1935–1953), Silver Age (1953–1970), Bronze Age (1970–1986) und Modern Age (seit 1986). Das Golden Age läutete den Beginn der Superhelden-Ära ein (noch waren es nur männliche): Superman wird ins Leben gerufen und erfreut sich bei jungen amerikanischen Männern großer Beliebtheit. Während des Zweiten Weltkriegs nahmen trotz der großen Rationierungen von Papier und Büchern die Verkaufszahlen von Comicbüchern zu. In diesem Zeitalter erschienen auch die ersten „Captain America“-Bücher – ein typisch amerikanischer Held, der selbst im Krieg kämpft und gegen die Achsenmächte antritt. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs nahm auch das Goldene Zeitalter der Comicbücher ein Ende: In den USA wurden die Bücher als Grund für die steigende Jugendkriminalität gesehen, woraufhin Gewalt und Sex in Superheldencomics verboten wurden. Einige Verlage gingen daraufhin bankrott.
Das Silberne Zeitalter war der Beginn für viele heute beliebte Superheld*innen. Der berühmte Autor von Marvel Comics, Stan Lee, erfand die Fantastic Four, woraufhin Marvel neben Detective Comics (DC-Comics) ein großer Mitspieler im Geschäft wurde. Auch die ersten weiblichen und nicht weißen Superhelden wurden im Silbernen Zeitalter geschaffen; so veröffentlichte Marvel die Defender-Reihe, darunter Luke Cage, ein afroamerikanischer Söldner, und die Black-Panther-Reihe, wo es um den König eines fiktiven Staats in Afrika geht.
Das Bronzene Zeitalter wurde vom tragischen Tod von Gwen Stacy, Spider-Mans Freundin, eingeläutet. Dies wurde als Wendepunkt gesehen, da es zuvor nicht üblich war, tragende Rollen in Comicbüchern sterben zu lassen. Es war der Beginn einer düsteren Comic-Ära: Marvel erfand den Punisher, einen brutalen Antihelden, der teilweise auf unmoralische Art und Weise in New York für Recht und Ordnung sorgt. Diese neuen Held*innen aus den 80ern spiegelten den etwas tristen Zeitgeist wider und lebten von der Tatsache, dass wirklich selbstlose Superheld*innen mittlerweile unglaubwürdig erschienen.
Superman, ein Alien mit Superkräften. Superman tauchte das erste Mal im Juni 1938 in „Action Comics #1“ von DC auf. Er ist übermenschlich stark, quasi unverwundbar, kann sehr hoch springen und in späteren Darstellungen im Silbernen Zeitalter auch fliegen. In den Comicbüchern werden seine Kräfte mit seiner Abstammung vom Planeten Krypton erklärt, auf dem die Gravitation viel stärker ist als auf der Erde. Das ergibt grundsätzlich Sinn: Astronaut*innen, die beispielsweise den Mond besuchen, einen Himmelskörper mit einer viel kleineren Gravitation als auf der Erde, können um einiges höher springen und sind grundsätzlich stärker als auf der Erde. Unsere Muskeln, die jahrelang gelernt haben, gegen die Erdanziehungskraft zu arbeiten, müssen sich auf dem Mond nicht so sehr anstrengen. Die Frage ist also: Kann es so einen Planeten überhaupt geben? Und wie stark muss die Anziehungskraft von Krypton sein, damit Superman übermenschliche Fähigkeiten erlangen kann?
In der Ursprungsgeschichte von Superman wird erwähnt, dass er ohne Probleme auf ein 30 Stockwerke hohes Gebäude springen kann. Mit einer einfachen mathematischen Formel und dieser Information kann man berechnen, wie stark die Gravitationskraft auf Krypton sein muss. Die Formel, die James Kakalios für seine Berechnungen nutzt, lautet: Kraft entspricht der Masse mal der Beschleunigung (F = m × a). So kommt der Physiker Kakalios auf sein Ergebnis, dass Krypton eine 15-mal stärkere Anziehungskraft hat als die Erde.
Kann es einen Planeten wie Krypton überhaupt geben? Hier sind sich die beiden Wissenschaftler Kakalios und Weinberg einig: theoretisch schon!
So ein Planet müsste entweder besonders groß oder besonders dicht sein. Es ist schwierig und sehr unwahrscheinlich, einen festen Planeten im richtigen Abstand zu einem Stern zu finden, der 15-mal größer ist als die Erde. Die meisten Planeten dieser Größenordnung sind Gasplaneten, auf denen keine Zivilisation mit Städten und Raketen entstehen kann. Der Physiker Kakalios findet in seinem Buch für dieses Problem nur eine Erklärung: „Damit die Schwerkraft auf Krypton 15-mal größer ist als auf der Erde, muss er einen Kern aus Neutronen-Sternmaterie in seinem Zentrum haben.“ Planeten, die im Zentrum einen Neutronenstern haben, sind zugegebenermaßen sehr selten, wenn sie überhaupt existieren. Das würde jedoch auch erklären, warum Krypton damals explodiert ist und Superman als Säugling von seinen Eltern auf die Erde geschickt wurde. Die Herkunftsgeschichte des wohl berühmtesten Superhelden ist also nicht ganz unmöglich, wenn doch sehr unwahrscheinlich. Die beiden Teenager und Erfinder von Superman (Jerry Siegel und Joe Shuster) hatten also entweder ein ausgeprägtes Verständnis von Astrophysik und Quantenmechanik, das jenes vieler zeitgenössischer Physikprofessor*innen im Jahr 1938 übertraf, oder sie hatten einfach großes
Glück beim Raten.
Jeder, der sich mit Comic-Büchern nicht auskennt, wird nicht glauben können, dass irgendetwas aus Comic-Büchern wissenschaftlich korrekt ist.
James Kakalios, Physiker und Autor
Der unglaubliche Hulk: grün und radioaktiv. Der unglaubliche Hulk, einer der ersten großen Marvel-Protagonisten, war in vielerlei Hinsichten ein ungewöhnlicher Superheld. Er sah zum einen mit seiner grünen Haut und seinem monsterähnlichen Auftreten nicht aus wie die klassischen Comic-Protagonisten Superman und Batman, zum anderen hatte er auch nicht die heroischen und selbstlosen Charakterzüge vieler seiner Kolleg*innen. Bruce Banner ist Wissenschaftler und kein Superheld – nur durch einen Unfall wurde er zum grünen, unberechenbaren Monster Hulk. Er will kein Superheld sein und hat sehr mit den zerstörerischen Ausbrüchen seiner zweiten Persona, dem Hulk, zu kämpfen.
Radioaktivität zu nutzen, um ungewöhnliche Erscheinungen und Superkräfte zu erklären, war 1962, als Hulk zum ersten Mal erschienen ist, nichts Ungewöhnliches. Die beiden Atombombenabwürfe in Hiroshima und Nagasaki gegen Ende des Zweiten Weltkriegs haben Menschen gezeigt, welch zerstörerische Auswirkungen Radioaktivität auf die Menschen und ihre Umwelt hat. Auch Stan Lee, der Erfinder von Hulk, nutzte sein Halbwissen über Radioaktivität und Gammastrahlen, um die Verwandlung von Bruce Banner zu Hulk zu beschreiben.
In den Comicbüchern steht Bruce Banner während des Unfalls im Zentrum der Explosion einer sogenannten Gamma-Bombe. Wie der Name schon sagt, emittiert diese erfundene Bombe höchstwahrscheinlich Gammastrahlung, eine Art der radioaktiven Strahlung, die durch den Zerfall von Atomkernen entsteht und die (neben der Alpha- und der Betastrahlung) für den Menschen am gefährlichsten ist. Unter anderem dringt diese elektromagnetische Strahlung in das Erbmaterial von Lebewesen ein und verändert dabei die DNA, was zu starkem Tumorwachstum, Verbrennungen und schließlich zum Tod führen kann. Außerdem gibt es kein bekanntes Heilmittel für die Strahlenkrankheit; Anzeichen dafür sind Übelkeit, Erbrechen, Kopfschmerzen, Verlust weißer Blutkörperchen, Haarausfall, Schädigung von Nervenzellen und Schädigung der Zellen im Verdauungstrakt – nirgendwo steht geschrieben, dass man sich zu einem großen grünen Monster mit Superkräften verwandelt. In den Büchern bekommt Banner eine Dosis von ungefähr 1.000 Rem (eine Einheit für Radioaktivität) ab – eine so hohe Dosis führt in den Tagen nach der radioaktiven Belastung mit ziemlicher Sicherheit zum Tod. Der unglaubliche Hulk und seine Entstehungsgeschichte sind also nicht nur unwahrscheinlich, sondern sogar unmöglich.
Spider-Man – mit Spinnenbiss zum Superhelden. Einer der bekanntesten und beliebtesten Helden aus dem Marvel-Universum ist Spider-Man, ein Teenager namens Peter Parker, der von einer radioaktiven Spinne gebissen wird und danach das menschliche Äquivalent zu „Spinnenkräften“ erhält. Er wird stärker, beweglicher, schneller, kann Wände und Decken hinaufklettern und hat den sogenannten „Spinnensinn“. Selbst mit viel Fantasie ist das meiste von Spider-Mans Darstellung nicht realistisch.
Lediglich zwei von Peter Parkers Superkräften, der Spinnensinn und die Kraft, auf Wände und Decken hinaufzuklettern, sind plausibel von den Fähigkeiten des Ursprungstiers abgeleitet. Alles andere, sowohl die gesteigerte Agilität als auch die enorme Kraft, hat nichts mit tatsächlichen Spinnen zu tun. Diese sind nämlich aufgrund ihrer acht Beine für ihre Größe nicht besonders schnell. So schreibt Dick Jones in seinem Buch „Spider: Story of a Predator and Its Prey“: „Wie geschickt sie auch sein mögen, wenn es darum geht, zum Beispiel Fliegen zu fangen, Spinnen sind in Wirklichkeit sehr ineffiziente Raubtiere. Die Netzweber fangen ihre Beute nicht aktiv, die Beute fängt sich selbst – ähnlich wie bei einem Fisch – in einem Netz. Jagdspinnen, insbesondere die nachtaktiven Arten, jagen kaum.“
Der Mix aus Action, Technologie und Wissenschaft macht die original Superheld*innencomics zu Paradebeispielen für Science-Fiction. Ganz im Gegenteil zu Fantasie- und Zaubereigeschichten versuchen Comic-Buchautoren die meiste Zeit nicht, die Kräfte und Fähigkeiten ihrer Protagonist*innen auf „Magie“ zurückzuführen – stattdessen versuchen sie, auf moderne Wissenschaft zurückzugreifen, um ihre Held*innen mehr oder weniger realistisch zu porträtieren. Und wer weiß, vielleicht kommt tatsächlich irgendwann ein Lebewesen von einem anderen Planeten mit einem Neutronenstern als Kern auf die Erde und hilft uns, Bösewicht*innen zu besiegen …