WIEN WAR WILD

Die Wiener Vororte und Stadt-Randzonen waren vor 100 Jahren noch alles andere als strukturiert. Tatsächlich hat Wien eine lange Geschichte, die durch informelle Siedlungen oder auch „wilde Siedlungen“ geprägt wurde. Andre Krammer und Friedrich Hauer, zwei Wissenschaftler der Technischen Universität Wien, haben sich der Dokumentation und der Aufarbeitung Wiens wilder Geschichte verschrieben. Sie erklären, warum sich einige Bewohner der Stadt ohne Genehmigungen an Grünzonen ansiedelten und wie Wien darauf reagierte.

Text: Lela Thun

In Ihren kürzlich publiziertenArbeiten geht es vor allem um informelle Stadtentwicklung im 20. Jahrhundert in Wien. Warum interessieren Sie sich für dieses Thema?
Friedrich Hauer: Uns ist vor einiger Zeit aufgefallen, dass es über die informelle Siedlungstätigkeit, sprich die Urbanisierung der Stadtränder außerhalb der formalen öffentlichen Planung, vor allem während der beiden Kriegs- und Nachkriegszeiten im 20.Jahrhundert, wenig wissenschaftliches Material gibt. Gleichzeitig war dieses Thema für die Wiener Stadtentwicklung von großer Bedeutung, weil einfach riesige Flächen davon betroffen waren, was Auswirkungen bis heute hat. Wien war vielleicht auch dahingehend besonders, weil die Siedlungen im Gegensatz zu anderen europäischen Großstädten kaum geräumt wurden.

Andre Krammer: Interessanterweise wurde die informelle Stadtentwicklung bisher in der Forschung primär als ein Phänomen des Globalen Südens wahrgenommen. Dass es aber im globalen Norden bzw. auch in europäischen Städten informelle Siedlungen gab, wie z.B. die sogenannten „wilden“ Siedlungen Wiens, ist bisher vernachlässigt worden. In Bezug auf Wien hat uns besonders beschäftigt, wie die Stadt und die Stadtplanungsabteilungen auf das Phänomen einer Stadtentwicklung „von unten“ reagiert haben. Bisher dominierten die Wohnprogramme des Roten Wien, die top-down umgesetzt wurden, die Wahrnehmung. In Wirklichkeit wird Stadt aber immer sowohl durch formelle Planung als durch informelle Praktiken der Stadtbewohner*innen „produziert“.

Was waren die Ursachen für diese „informellen Siedlungen“?
Andre Krammer: Auslöser waren zeithistorische politische wie soziale Krisen, allen voran zwei Weltkriege, die Nahrungsmittelknappheit und Wohnungsnot hervorriefen, aber auch die Weltwirtschaftskrise Ende der 20er Jahre, die eine sehr hohe Arbeitslosenquote zur Folge hatte. Es kam zu wiederholten Schüben „wilden“ Siedelns, da sich zehntausende Wiener*innen wiederholt zur Selbsthilfe gezwungen sahen. Den Siedler*innen ging es ganz pragmatisch um einen möglichst hohen Grad an Selbstversorgung durch Eigenanbau und um das Überleben in anfänglich oft nur notdürftig selbst zusammengezimmerten Behausungen, in Brettelhütten bzw. Bretteldörfern wie die Wiener*innen diese nannten. In Krisenzeiten vertrauten viele nicht auf rasche und ausreichende Hilfe seitens der Behörden. Sogar das Fehlen von basaler Infrastruktur – Wasseranschluss, Elektrizität, Kanalisation und befestigte Straßen nahmen sie in Kauf.

Erweiterung eines Kleingartens in ein Bahnviadukt

Friedrich Hauer: Wie mein Kollege gerade beschrieben hat, waren die UMWELT Auslöser in den meisten Fällen Krisenmomente, aber es ist auch wichtig zu erwähnen, in welchen geopolitischen Konstellationen sich die Stadt befand. Wien hat nämlich einerseits eine spezielle Geschichte unter den großen europäischen Städten, denn die meisten, vielleicht mit Ausnahme von St.Petersburg, haben in den 1920er und 30er Jahren einen ziemlichen Boom erlebt und sind gewachsen. Wien als die „Versuchsstation des Weltuntergangs“, wie Karl Kraus das genannt hat, ist nach dem Zerfall der Monarchie bis in die 1990er Jahre mehr oder weniger stagniert. Es gab daher zunächst keinen Grund für die Gemeinde, sich über Erweiterungen Gedanken zu machen, weil die Anzahl der Bewohner*innen gesunken oder gleich geblieben ist. Auf der anderen Seite gab es viele Grünflächen rund um die Stadt, etwa ehemalige Habsburger Wälder, wo es nach 1918 Unklarheiten gab, in welchen Besitzt diese übergehen. Solche Situationen haben die wilden Siedler*innen angezogen, große Waldflächen wurden zunächst illegal abgeholzt und dann besiedelt. Ich würde aber sagen, dass diese landschaftliche Ausgangslage der Stadt keine hinreichende Bedingung für die informelle Urbanisierung war, sondern eher eine notwendige. Sprich: Die vielen Grünflächen am Stadtrand kamen den Siedler*innen und Gärtner*innen bestimmt zugute, reichen aber nicht als Erklärung für dieses Phänomen.

Welche Probleme gab es bei dieser Form der Siedlungsentwicklung?
Andre Krammer: Im Zuge der ersten großen Welle „wilden“ Siedelns nach 1918 kam es in der Wiener Innenstadt zu Großdemonstration von bis zu hunderttausend Siedler*innen, die Unterstützung und rechtliche Anerkennung forderten. Der politische Druck war also enorm. Die hohe Zahl der Betroffenen und die enorme Expansion der „wilden“ Siedlungen machte es den Behörden unmöglich, ihre Ordnungsvorstellungen durch großflächige Räumungen durchzusetzen. Anfang der 20er Jahre versuchte man Teile der informellen Siedlungsbewegung durch ein gezieltes Siedlungsprogramm „einzufangen“ und in formelle bzw. auch legale Bahnen zu lenken. Doch nur ein kleiner Teil der Graswurzelbewegung wurde so Teil der offiziellen Wiener Siedlerbewegung (1921-1924).

Was waren die Antworten der Stadt auf diese „wilden“ Siedlungen?
Andre Krammer: Die Antwort war das, was wir gerne als pragmatische Integration bezeichnen. Die meisten „wilden“ Siedlungen blieben bis weit in die Nachkriegszeit bestehen und wurden ab den frühen 60er Jahren in einem langwierigen, mehrere Jahrzehnte umspannenden Prozess erst infrastrukturell nachgerüstet, dann baurechtlich „saniert“ und in verschiedene Widmungskategorien eingegliedert. Die Geschwindigkeit dieser Formalisierung, die Karrieren einzelner Siedlungen gingen oft sehr unterschiedlich vonstatten. Ein interessanter Aspekt ist, dass sehr oft in Kleingärten unerlaubterweise gewohnt wurde. Viele der dafür errichteten Gebäude entsprachen nicht der Bauordnung. Auch das stellt einen Strang der informellen Urbanisierung Wiens dar. Mit der Novelle des Kleingartengesetzes 1992 und der Legalisierung von ganzjährigem Wohnen in dementsprechend gewidmeten früheren Kleingartenzonen wurde offiziell sanktioniert, was bisher stillschweigend geduldet worden war.

Friedrich Hauer: Wenn man sich heute Kleingartensiedlungen, etwa an der Alten Donau oder rund um den Wolfersberg und Satzberg im 14. Bezirk anschaut, sieht man an den Parzellenmustern, der Größe, Lage und Ausrichtung der Häuser, anhand der Dimension und Anlage von Wegen und Straßen oft deutlich, dass es sich einmal um informelle Gebiete gehandelt hat. Trotz des Wandels der meisten Siedlungen zu hochpreisigen, begehrten Wohnquartieren kann man immer noch vereinzelt alte Hütten und recht „wilde“ Situationen sehen. Am Wolfersberg gab es bis vor kurzem auch noch ein Lehmhaus aus der Ursprungszeit der Siedlung.

Wie steht die Stadt Wien heute zu ihrer Entscheidung?
Friedrich Hauer: Eine schwierige Frage, die sich nicht eindeutig beantworten lässt. Man muss natürlich sagen, dass die ehemaligen „wilden“ Siedlungen und die Kleingärten heute relativ viel Platz beanspruchen, gleichzeitig eine geringe Wohndichte haben und oft an sehr attraktiven Orten stehen. Wien geht langsam der Erweiterungsplatz aus. Sprich:
Es gibt kaum noch Platz innerhalb der Stadtgrenzen, um für die derzeit stark wachsende Bevölkerung zu bauen – zumindest nicht, wenn man den ohnehin lückenhaften Grüngürtel schützen oder gar ausbauen möchte. Mit dem Abverkauf von Kleingartenparzellen und der Legalisierung der Wohnnutzung seit den 90er Jahren hat die Stadt zudem ohne Not potenzielle Entwicklungsflächen aus der Hand gegeben, die sie nie mehr zurückbekommen wird. Diejenigen, die heute im Kleingartenhaus mit U-Bahn-Anschluss wohnen können, haben natürlich das große Los gezogen! Uns haben vor allem die Realitäten jenseits der offiziellen Stadtplanungsgeschichte interessiert und wir waren irgendwie beeindruckt, wie viel da von der Bevölkerung ausgehend passiert ist. Die „Wilden“ waren gewissermaßen die Pioniere der Suburbanisierung in Wien. Gleichzeitig braucht man sich, glaube ich, keine Illusionen zu machen über das harte, teils elende Leben in vielen der Siedlungen von damals, die ja zum größten Teil aus purer Not und Mangel an Alternativen entstanden sind.

Andre Krammer und Friedrich Hauer sind Wissenschaftler vom Institut für Städtebau der TU Wien. Gemeinsam schreiben sie mehrer Arbeiten zu dem informellen Städtebau in Wien.