WENN ES UM ZEIT GEHT, FALLEN EINEM ALS ERSTES UHREN EIN, UND DAMIT AUCH SALVADOR DALÍS GEMÄLDE „The Persistence of Memory“ aus dem Jahr 1931, das in der Sammlung des Museum of Modern Art (Moma) in New York City zu bewundern ist. Das Gemälde besteht aus schmelzenden Zeitmessern, was ihm in der Populärkultur u.a. den Namen „Die weichen Uhren“ einbrachte. Obwohl Dalí selbst auf Nachfrage sagte, es handle sich um eine „surrealistische Wahrnehmung eines in der Sonneschmelzenden Camemberts“, interpretieren einige, wie die britische Kunsthistorikerin Dawn Adès, das Gemälde in eher wissenschaftlichen Metaphern. In ihren Worten: „Die weichen Uhren sind ein unbewusstes Symbol für die Relativität von Raum und Zeit, eine surrealistische Meditation über den Zusammenbruch unserer Vorstellungen von einer festen kosmischen Ordnung.“
Die Zeit ist also einfach das, was die Uhr anzeigt, ganz einfach. Oder doch nicht? Für klassische Physiker*innen ist die Sache viel komplizierter: Die Unterscheidung zwischen Vergangenheit und Zukunft ist rein statistisch – alle elementaren mechanischen Naturgesetze sind bei Umkehrung der Zeitrichtung unveränderlich. Der Zeitpfeil ist nicht Teil der fundamentalen Struktur der Natur (in der Quantenphysik ist es jedoch unterschiedlich).
Wendet man sich jedoch den Neurowissenschaften zu, also der Erforschung des Nervensystems, wird alles, was mit der Zeit zu tun hat, ein wenig klarer. Diese unterschiedlichen Auffassungen über einen der wohl grundlegendsten Umstände in unserer Welt haben Wissenschaftler*innen mit unterschiedlichem Hintergrund dazu veranlasst, gemeinsam an folgender Frage zu arbeiten: Was ist Zeit überhaupt?
„Es gibt Unterschiede zwischen der Art und Weise, wie ein Neurowissenschaftler und wie ein theoretischer Physiker – wie die beiden Autoren dieses Kapitels – die Zeit verstehen“, schreiben Dean Buonomano und Carlo Rovelli in ihrem Artikel „Bridging the neuroscience and physics of time“. Buonomano ist Neurowissenschaftler an der UCLA und Autor der Bücher „Your Brain is a Time Machine“ und „Brain Bugs“, Rovelli wiederum ist Physiker und Autor von „The Order of Time“ und „Reality Is Not What It Seems“ – um nur einige zu nennen. Die beiden Wissenschaftler versuchen, eine direkte Kommunikation über die Zeit zwischen ihren jeweiligen Fachgebieten herzustellen (was einer der wichtigsten Katalysatoren im wissenschaftlichen Prozess ist). Für eine* Neurowissenschaftler*in hat die Zeit einen positiv ausgerichteten Pfeil: Er zeigt immer in die Zukunft. Die Vorstellungen von Vergangenheit und Zukunft sind klar: Wir können uns an die Vergangenheit erinnern und die Zukunft beeinflussen, aber nicht umgekehrt. „Die Vergangenheit existiert nicht mehr, die Zukunft ist offen; die Gegenwart ist der einzig wahre Moment“, schreiben die Autoren. Also sind Zeitreisen nicht möglich? Nein, das ist nach Ansicht von Neurowissenschaftler*innen nur eine Frage der Fiktion, denn man kann nicht zu einem Zeitpunkt reisen, der nicht mehr oder noch nicht existiert.
Johann Summhammer, pensionierter Professor am Atominstitut der Technischen Universität Wien und Experte für experimentelle Quantenphysik, gehört ebenfalls zu denjenigen, die sich für einen Brückenschlag zwischen der Physik und den Neurowissenschaften der Zeit engagieren. „Wenn man sich unsere Zeiterfahrung ansieht, ist sie ein kontinuierlicher Fluss von einem Moment zum nächsten, und das ist für unser subjektives Sein und Erleben sehr konstitutiv. Unser Zahlenkonzept entspringt dieser Vorstellung von dem, was wir in uns selbst finden, diesem Fluss der Zeit, dieser Abfolge von einem Moment zum nächsten; aber wenn man über einen längeren Zeitraum zurückblickt, muss man jedem Moment, den man erlebt hat und an den man sich erinnert, ein Zeitetikett zuordnen“, erklärt Summhammer. Und das macht das menschliche Gehirn automatisch. Es gibt also die Struktur von vorher und nachher, die bereits mit jedem Erfahrungsinhalt des subjektiven Bewusstseins verbunden ist. Aus der Sicht der Physiker*innen, die der Relativitätstheorie folgen, ist eine objektive Vorstellung von einer globalen Gegenwart nicht möglich. Das bedeutet, dass es, dem Beispiel Buonomanos und Rovellis folgend, keinen Sinn macht, zu fragen, was ein Astronaut in einem weit entfernten Raumschiff „jetzt“ tut. „Es ist alles andere als offensichtlich, warum wir uns an die Vergangenheit erinnern, aber nicht an die Zukunft, und warum wir die Zukunft beeinflussen können, aber nicht die Vergangenheit“, erklären die Autoren, und weiter: „In gewisser Weise ist es einfacher, sich die gesamte Raumzeit als eine einzige vierdimensionale Einheit (das sogenannte Blockuniversum) vorzustellen, in der zeitliche Vorstellungen eine Frage der Perspektive sind. Zeitreisen werden zu einem Gegenstand theoretischer Untersuchungen“.
Johann Summhammer macht die Relativität von Zeit an einem Beispiel deutlich: Eine Person in der Mitte eines sehr langen Busses sendet einen Lichtblitz aus; an beiden Enden des Busses befindet sich ein Detektor. Für die Person im Bus erfolgt die Registrierung des Blitzes an beiden Enden des Busses gleichzeitig. Für eine andere Person, die an der Bushaltestelle steht, während der Bus vorbeifährt, scheinen diese beiden Ereignisse, die Detektionen des Blitzes an den beiden Enden des Busses, nicht gleichzeitig stattzufinden. Tatsächlich muss das vom Beobachter entferntere Ende des Busses den Lichtblitz immer etwas später empfangen. Die beiden Personen könnten also darüber streiten, welches Ereignis zuerst und welches danach eintrat. Wenn eine dritte Person in der anderen Richtung, in einem sehr schnellen Fahrzeug, vorbeifährt, dann kehrt sich für diese Person die Reihenfolge der Ereignisse um. „DIESE MENSCHEN WERDEN sich definitiv nicht darauf einigen können, was Vergangenheit und Gegenwart war, was zuerst und was danach kam“, so Summhammer. „Aber es gibt eine Möglichkeit, sich mithilfe der speziellen Relativitätstheorie zu einigen. Sie müssen die Relativgeschwindigkeit des anderen kennen, damit sie sich auf einen gemeinsamen Bezugsrahmen einigen können – etwa den Bus, in dem die ursprüngliche Person sitzt.“ Letztlich führt man es auf sein subjektives Verständnis zurück, dass es eine korrekte Reihenfolge von vorher und nachher geben muss. In der Physik ist diese richtige Reihenfolge immer von einem Bezugsrahmen abhängig. Wenn jemand in einem anderen Bezugsrahmen lebt, der sich im Verhältnis zu einem Bezugsrahmen bewegt, haben die Ereignisse in der Zeit eine andere Reihenfolge – aber es ist klar, wie man die beiden vergleicht und wie man von einem zum anderen rechnet.
IN DER SPEZIELLEN Relativitätstheorie hängt es auch vom Bezugsrahmen ab, wie schnell die Zeit vergeht. „Wenn jemand in einer Rakete von dir weggeflogen ist, dann erlebt diese Person die Zeit langsamer als du.“ erklärt Summhammer. Was sich schneller bewegt, schreitet langsamer in der Zeit voran. Im Allgemeinen läuft die Zeit in einem beschleunigten System und damit auch in einem Gravitationsfeld langsamer. Die Zeit ist ja von einem Bezugsrahmen abhängig – aber es gibt einen Vorbehalt: In jedem Bezugsrahmen gibt es einen Zeitpfeil. Ein/e Beobachter*in wird sich letztlich auf seine oder ihre subjektive Erfahrung des Zeitflusses beziehen, und alle Messinstrumente werden auf dieser subjektiven Erfahrung beruhen. „Aber wenn man die Zeit objektivieren will, dann sagt man, der Zeitpfeil kann durch die Zunahme der Entropie (ein Maß für die nicht verfügbare Energie in einem geschlossenen thermodynamischen System, das in der Regel auch als ein Maß für die Unordnung des Systems angesehen wird, Anm.) definiert werden.“ erklärt Summhammer „Um diese Aussage machen zu können, musste Ludwig Boltzmann von dem Konzept, alles deterministisch zu beschreiben, weggehen und statistische Konzepte einführen. Die Entropie ist also letztlich ein Konzept, das die Zeit mit der Statistik verbindet.“
In der Quantenphysik ist die Zeit etwas komplizierter. Sie ist dort ein Parameter, der von außen gesetzt wird– man muss von einem Zeitfluss ausgehen. Im Gegensatz dazu erfolgt die Beobachtung von Positionen durch sogenannte Operatoren (eine Funktion über einen Raum physikalischer Zustände auf einen anderen). Der Grund: Wir können nur Positionen setzen, aber nicht die Zeit. „Ich kann nicht sagen: ‚Lass uns das Experiment gestern um 08:00 Uhr morgens beginnen.‘ Das ist unmöglich, weil die Zeit schon weitergelaufen ist“, so Summhammer. Mehr noch in der Quantenwelt: Man kann nicht vorhersagen, wann etwas passieren wird, man kann nur grob abschätzen, wann etwas passieren könnte. „Nehmen wir an, Sie haben zwei Teilchen, deren Energie Sie genau kennen, und sie sollen sich gegenseitig streuen. Man kann nicht sagen, wann das passieren wird. Um die ungefähre Zeit zu bestimmen, zu der dies geschehen könnte, muss man ihre Geschwindigkeiten unscharf machen. Andernfalls haben sie keinen wirklichen Ort, und man kann nicht sagen, wann sie aneinander streuen werden.“ Dies ist die Unschärferelation, die erstmals 1927 von Werner Heisenberg postuliert wurde. Sie besagt, dass der Impuls eines Teilchens umso ungenauer aus den Anfangsbedingungen vorhergesagt werden kann, je genauer seine Position bestimmt ist, und umgekehrt. Für jene, für die das alles sehr verwirrend klingt, zur Beruhigung: Richard Feynman, Nobelpreisträger für Physik, sagte einst: „Jeder, der glaubt, die Quantenmechanik zu verstehen, hat sie nicht verstanden.“
Es herrscht also Verwirrung mit der Zeit – im Reich der Wissenschaft. Mit den Worten von „AnnenMayKantereit“, der Pop-Rock-Band aus Köln: „Ich kann nich’ in die Zukunft schaun, nur in die Vergangenheit ... aber wenn ich etwas nicht verstehe, ist das Zeit.“ Dann ist die Frage: Wie soll man also vorgehen, wenn man versucht, die Zeit inmitten all dieses Durcheinanders zu verstehen? „Nun, manchmal versuche ich, darüber nachzudenken, ob wir aus der Vorstellung ausbrechen können, dass Zeit ein Fluss ist. Aber das führt immer zurück zum subjektiven Element, zu unserer Vorstellung, dass wir bewusste Wesen sind“, sagt Summhammer.
Es ist alles andere als offensichtlich, warum wir uns an die Vergangenheit erinnern, aber nicht an die Zukunft, und warum wir die Zukunft beeinflussen können, aber nicht die Vergangenheit
Dean Buonomano und Carlo Rovelli