Katharina Gossow

Viel Glück, Kevin, Viel Glück, Chantal

Die österreichische Bildungslandschaft erschwert den sozialen Aufstieg von Kindern. Bildung, Beruf und Einkommen – kurzum: die gesellschaftliche Klasse – der Eltern entscheiden über den Lebensweg eines Kindes. Eine Gesamtschule bis 14 könnte Chancengleichheit ermöglichen.

Text: tuw.media-Redaktion Foto: Katharina Gossow

 

Mit unserem Bildungssystem befördern wir soziale Ungleichheit und halten eine Trennung der Klassen aufrecht. Dieser Befund ist hart, aber „wir müssen ehrlich über unser Klassensystem reden“, fordert die Klassismusforscherin Francis Seeck. Gerade Menschen mit einem liberalen oder linken Weltbild wünschen sich zwar eine gerechte Gesellschaft, aber in jenem Moment, in dem es um die Schulwahl und die Klassenkolleg*innen ihrer Kinder geht, suchen sie „das Beste“ für das eigene Kind. Die Vorstellung, dass das eigene Kind mit den armen Teilen der Bevölkerung oder Migrant*innen in täg­lichen Kontakt kommt, spricht sie weniger an als die Vorstellung eines Umgangs mit Kindern aus einem Elternhaus mit höherem sozialem oder kulturellem Kapi­tal. Sehen wir uns also an, wie denn der Abstand zwischen den einzelnen Bevölkerungsschichten entsteht: „Social distancing“

Schauplatz 16. Wiener Gemeindebezirk, Ottakring: Wir blicken nicht in den oberen Teil, zu den Weinbergen, dem Wienerwald und den Villen, sondern dorthin, wo die vorwiegend einkommensschwachen Menschen des Bezirks wohnen, zum Arbeiter­strich, zu den Bordellen und Migranten­cafés, dorthin, wo die Supermarkt- und Banko­matdichte niedrig ist. Wer hier der Mittelschicht angehört und einen Kindergarten für sein Kind sucht, wird nach den eigenen kulturellen Prägungen und finanziellen Möglichkeiten entscheiden. Möglichkeiten sind etwa:

1. Der geschlechtssensible „Bildungskindergarten“, der Kinder „individuell“ begleitet und die „Kreativität“ fördert. Weder spielen laut Homepage Geschlecht, Kultur, Nationalität oder Religion eine Rolle, abseits vorge­gebener Rollenbilder soll das Kind eine eigene Identität entwickeln. Kosten: 160 € monatlich, Anmeldegebühr: 50 €, Kaution: 120 €.

2. Der Besuch eines öffentlichen Kindergartens der Stadt Wien kostet weniger: 63,27 € für den Essens­beitrag, von dem sich Eltern mit geringem Einkommen befreien lassen können. Auch hier wird ein pädagogisch interessantes Konzept mit Schwerpunkten auf Offenheit gegenüber Kulturen und die optimale Entwicklung des Kindes geboten.

Beim Lokalaugenschein begegnet man im städtischen Kindergarten jenen Kindern, deren Mütter man oft als Regalbetreuerin oder Kassiererin im Supermarkt nebenan sieht. Im gendersensiblen Kindergarten wären die Eltern vielleicht Schriftsteller*innen oder höhere Angestellte des Magistrats. Wo würden Sie Ihr Kind sehen?

Schule als „Aus­grenzungs­­apparat“ (Stefan Wellgraf)
Mit der Wahl des Kindergartens haben Sie aber noch nicht Ihre letzte Entscheidung getroffen, die das Leben Ihres Kindes beeinflussen wird. Es geht weiter mit der Wahl der Volksschule, pro forma zwar eine Gesamtschule, aber schnell zeigt sich, dass Schulen ein breit gefächertes Angebot anbieten: etwa reformpädagogisch geführte Mehrstufenklassen oder bilinguale Klassen – oder die „normale“ Regelklasse? Wer zuvor den gendersensiblen Kindergarten gewählt hat, wird nicht lange überlegen, wie es nun weitergeht. Das Kind wird mit seinesgleichen die Schulbank drücken, oder gar mit den Kindern jener Eltern, die über ein gutes Einkommen verfügen und beruflich erfolgreich(er) sind.

Manche Eltern setzen Vertrauen in das Schulsystem oder sind überfordert mit dem vielfältig gewordenen Angebot; damit ist die Entscheidung für die Regelklasse gefallen. Für Kind und Eltern im migrantisch geprägten Teil des 16. Wiener Gemeinde­bezirks bedeutet das, dass der Sprössling vorwiegend auf Kinder treffen wird, deren Eltern keinen Bildungshintergrund haben und nur über geringe finan­zielle Möglichkeiten verfügen. Viele dieser Kinder haben schlechte Deutschkenntnisse, wenige sind deutscher Muttersprache; Kinder von Akademiker*innen werden Sie hier wahrscheinlich nicht antreffen, weil diese sich über die verschiedenen Möglichkeiten informiert haben und ihre Wahl (jenseits der Regel­klasse) getroffen haben. Ihre Lehrer*innen werden wahrscheinlich engagiert sein, wahrscheinlich aber haben sie keine zusätzliche Aus­bildung in Montessori­pädagogik oder ähnliche Ausbildungen, die für Sie interessant sind. Welche Klasse streben Sie für Ihr Kind an?

Hier zeigt sich, wie ­bereits früh „Social Distancing“ vollzogen wird und dass es Spuren bei jenen hinterlässt, denen Informationen und finanzielle Mittel fehlen.

Weiter geht es mit der Wahl des Gymnasiums oder der Mittelschule. Das Gymnasium ist jener schulische Ort, der sozialen Aufstieg verspricht und ein bürgerliches Bildungsideal vertritt. Zugang zu diesem Ort gibt es allerdings nur mit einem entsprechenden Notendurchschnitt. Alle, die diesen nicht erreichen, besuchen die Mittelschule. Weiter selektiert wird bis zur Oberstufe, wo die Klassen sich immer weiter reduzieren.

Deutschland und Öster­reich halten an diesem System der Trennung von Zehnjährigen fest, das Menschen an ihre unterprivilegierte soziale Position bindet. Schule fungiert durch die frühe Trennung und andere Mechanismen als „Ausgrenzungsapparat“ (Stefan Wellgraf) und nur in Ausnahmen als ein Ort der Chancengleichheit für alle.

Ein solcher Befund klingt hart, wurden doch in Öster­reich mit der Bildungspolitik der Kreisky-Ära der 1970er-bis in die frühen 1980er-­Jahre viele positive Maßnahmen für Chancengleichheit umgesetzt: Studien­gebühren wurden abgeschafft, die Schülerfreifahrt und die ­Gratis-Schulbuchaktion oder die Abschaffung der AHS-Aufnahmeprüfung wurden durchgesetzt. Diese Maßnahmen wirken sich bis heute positiv auf soziale Teilhabe und Chancen aus. Dennoch, eine wichtige Voraussetzung für Chancengleichheit wurde bisher hintangestellt: die Gesamtschule bis 14 Jahre.

Dass diese Entscheidung Zukunftschancen verhindert, zeigen Studien, aber auch der Vergleich mit anderen Ländern und Regionen wie Südtirol oder Kanada mit ihrer Gesamtschule bis 14 (bzw. 15) Jahren und den positiven Erfahrungen damit. Weitere Maßnahmen wie der Verzicht auf eine Maßnahme wie das „Sitzenbleiben“ etc. spielen ebenfalls eine Rolle.

Wir müssen über unsere Klassen­gesellschaft und über Klassismus reden.

Francis Seeck, 2022

Klassismus grenzt aus
An dieser Stelle lohnt sich ein Blick auf die Diskussion um Klassismus, eine Form der Diskriminierung, die bis vor wenigen Jahren kaum beachtet wurde. Klassismus bezeichnet ein ­System der Ungleichheit und ­Diskriminierungen aufgrund der Klassenposition oder -herkunft von Menschen. Autor*innen wie Francis Seeck weisen darauf hin, dass unser Bildungskanon bis heute weiß und bürgerlich geprägt ist: Menschen mit vielen Ressourcen definieren, was Bildung ist und was auf der gymnasialen Oberstufe gelernt werden soll. Seeck stellt überhaupt den vorherrschenden Bildungsbegriff (und Bezeichnungen wie „bildungsfern“) als klassis­­­­­­tisch infrage und sieht ihn eng mit einem bestimmten Begriff von Bildung und kultu­rellem Kapital verbunden, „nicht aber mit einem allgemeinen Interesse an Wissensaneignung oder dem Wunsch, sich mit der Welt auseinanderzusetzen“.

Seeck zeigt, wie eine Mittelschichtsnorm unsere gesamte Gesellschaft prägt – nicht nur bei Bildungsidealen, sondern etwa auch bei im Film gezeigte Wohn- und Einkommensverhältnisse, die Diskriminierung von Menschen mit bestimmten Namen, „Sozialschmarotzerdebatten“ etc.

Studieren können
Bis zu einem Studium an einer Universität gelangen also hauptsächlich Kinder einer bereits gebildeten Schicht bzw. sind es diese, die dann auch ihr Studium abschließen. 2019 hatten knapp über 40 Prozent der Studienanfänger*innen Eltern mit Hochschulabschluss“, so Autorin Franziska Dissl­bacher. „Das ist ein beträchtlicher Anteil, vor allem, wenn bedacht wird, dass im Jahr 2018 lediglich – oder immerhin – 15,8 % der österreichischen Wohn­bevölkerung einen Hochschulabschluss hatten.“

Diese Zahlen wirken sich direkt auf die Einkommens­verhältnisse aus, die sich ebenfalls vererben: So wird das Einkommen eines Menschen aus einer Familie mit einem unterdurchschnittlichen Gesamteinkommen in Österreich erst nach fünf Generationen dem all­gemeinen Durchschnittseinkommen entsprechen, wie eine OECD-Studie aus dem Jahr 2018 erhoben hat. Zum Vergleich: In Dänemark kann dieser Aufstieg bereits in zwei Generationen gelingen.

Wir leben in einer un­g­leichen Gesellschaft und Kinder mit Namen ­wie Kevin, Chantal, Ayşe oder Miloš brauchen immer noch Glück oder viel Talent, um ein gutes Einkommen und einen angesehenen Status in der Gesellschaft zu erlangen. Es sei denn, sie kommen aus einer Familie mit kulturellen und finan­ziellen Ressourcen. Wenn wichtige bildungs­politische Maß­nahmen weiter verschleppt werden, können wir ihnen nur weiterhin viel Glück wünschen.  

Text: Edith Wildmann