Gianmaria Gava

THOMAS GÄRTNER

In seiner Jugend fasziniert von der Uhrmacherei merkte Thomas Gärtner früh, dass er sich gleichzeitig mit dem Lösen von Rätseln und mit theoretischem Denken beschäftigen wollte – mit der Informatik hat er den Mittelweg gefunden. Nach Stationen in Bristol, Bonn und Nottingham leitet Gärtner heute den Forschungsbereich Maschinelles Lernen an der TU Wien. Derzeit arbeitet er unter anderem an der Analyse und Entwicklung von Bakteriophagen, also Viren, die Bakterien angreifen können und somit eine Verteidigungslinie gegen Antibiotikaresistenzen bilden.

Text: Ekin Deniz Dere Foto: Gianmaria Gava

Warum haben Sie sich für ein Informatik­studium entschieden?

[Thomas Gärtner]: Ich bin in einer Gemeinde in Deutschland zwischen Darmstadt und Mannheim aufgewachsen. In der Schule habe ich mich immer für Mathematik und Naturwissenschaften begeistert. Dann habe ich ein Praktikum bei einem Uhrmacher gemacht. Dabei habe ich gemerkt, dass mich das Reparieren von Uhren sehr interessiert. Diese Art des Rätsellösens hat mich schon immer angesprochen. Auf der anderen Seite gab es immer diesen mathematischen Teil, der mich fasziniert hat. Die Informatik war für mich der ideale Mittelweg, bei dem ich sowohl praktische, kreative Dinge als auch theoretische Überlegungen anstellen konnte.

Wie sind Sie in den Forschungsbereich des ma­schi­nellen Lernens gekommen?

[T. G.]: Während meines ersten Studiums arbeitete ich im GMD-Forschungszentrum Informationstechnik in Darmstadt. Dort war ich unter anderem in einer Gruppe, die sich mit den Arbeitsräumen der Zukunft beschäftigte. Wir wollten sehen, welche natürlichen Interaktionen wir mit bestimmten Geräten haben können. Ich wollte zum Beispiel auf eine interaktive Tafel schreiben können und ich wollte, dass der Computer weiß, was ich schreibe. Heute können viele Geräte das, aber damals konnten sie es nicht. Ich dachte, dass es einen Weg geben muss, damit diese Geräte aus Daten lernen können. Das hatte mir während meines ersten Informatik­studiums niemand beigebracht. Ich dachte auch, dass es andere Leute geben muss, die daran arbeiten, Daten zu erstellen oder zu sammeln, sie zu analy­sieren und das, was man findet, für etwas ganz anderes zu nutzen. Schließlich entdeckte ich, dass dies genau die Aufgabe des maschinellen Lernens ist. Das Gebiet selbst war nicht mehr jung, aber immer noch ein Nischen­thema. Ich ging nach Bristol, um maschi­nelles Lernen zu studieren, dort gab es etwa fünf Student*innen; jetzt ist es überall ein Massen­phänomen. Die Neugierde hat mich also zum maschinellen Lernen gebracht und nicht mehr losgelassen. (lacht)

Warum haben Sie sich entschieden, an die TU Wien zu kommen?

[T. G.]: Als ich in Nottingham war, begann irgendwann der Brexit-Prozess und ich war nicht begeistert davon. Ich war mir nicht sicher, ob der Brexit mich aus dem Land treiben würde, aber ich dachte, es wäre ein guter Zeitpunkt, um mich noch einmal umzusehen. Ich habe viel in Bewerbungen investiert und hatte schließlich ein Angebot von Warwick im Ver­einigten Königreich, von Marburg in Deutschland und von hier. Ich habe mit allen gesprochen. Die Entscheidung ist eine Kombination aus dem Verlauf der Gespräche, dem Angebot und der Tatsache, dass ich die Stadt und die Umgebung mag. Ich dachte vorher, dass ich nicht in einer Millionenstadt leben kann oder will, aber in Wien ist die Natur nah genug, ich kann in die Berge gehen, ich kann mit dem Fahrrad fahren, wohin ich will. Es war also eine Kombination aus vielen Aspekten, die hier einfach schön sind.

Womit haben Sie sich während Ihres Studiums beschäftigt?

[T. G.]: Während meines Masterstudiums des Maschi­nellen Lernens habe ich mich in vielen Kursen mit Daten beschäftigt, die in eine Tabelle mit einer festen Anzahl von Spalten und Zeilen passen. Aber: Viele Daten der echten Welt sind anders, zum Beispiel strukturiert als Graphen, bestehend aus Knoten und Kanten, die sie verbinden. Mein Ziel war es, eine neue und erfolgreiche Klasse von Methoden an strukturierte Daten anzupassen. In meiner Master­arbeit habe ich mit diesem Problem angefangen und in meiner Doktorarbeit habe ich die gleiche Forschungsfrage tiefergehend untersucht: Wie können wir Algorithmen des maschinellen Lernens auf strukturierte Daten anwenden?

Sie haben sich auch mit der Anwendung von ML auf die Chemie beschäftigt …

[T. G.]: Ich finde, dass Chemie ein attraktives Anwendungsgebiet ist. Eine Art von Struktur, mit der ich gearbeitet habe, besteht aus Knoten und Kanten, die diese Knoten verbinden. Diese Art von Struktur eignet sich ideal für die Modellierung von sozialen Netzwerken oder Molekülen.

WIR MÜSSEN ALGORITHMEN VERTRAUENSWÜRDIGER MACHEN UND DANN ZEIGEN, DASS SIE VERTRAUENSWÜRDIG SIND.

Thomas Gärtner über die Aufgaben von KI-Forschung.

Und warum haben Sie Moleküle den sozialen Netzwerken vorgezogen?

[T. G.]: Bei der Arbeit an sozialen Netzwerken muss man oft mit großen Unternehmen zusammen­arbeiten, um Daten zu erhalten – Daten über Moleküle sind dagegen sehr leicht zu bekommen. Viele von ihnen sind öffentlich zugänglich und jede Universität, an der ich war, hat eine gute, starke Chemie- und Chemoinformatikabteilung.

Was ist die Hauptidee hinter Ihrer Forschung?

[T. G.]: Beginnen wir mit der abstraktesten Ebene: Ich möchte die Lücke zwischen unserem Verständnis, warum einige Methoden funktionieren, und dem, was wir in der Praxis brauchen, verkleinern.

Könnten Sie mit ein paar Beispielen mehr ins ­Detail gehen?

[T. G.]: Wir erhalten in der Regel nicht beschriftete Daten, zum Beispiel über Moleküle. Die Struktur der Moleküle ist leichter zu bekommen, weil wir viele von ihnen einfach aus Datenbanken herunterladen können. Aber zu wissen, ob sie an eine Bindungs­stelle eines Proteins binden oder gegen eine bestimmte Krankheit aktiv sind, ist viel schwieriger, weil man dazu Laborexperimente durchführen muss. Beim maschinellen Lernen im Allgemeinen wollen wir stellvertretende Funktionen erlernen, mit denen wir vorhersagen können, ob das Molekül aktiv ist oder nicht, ohne Experimente durchführen zu müssen. Natürlich werden wir nicht so präzise sein, aber zumindest können wir die riesige Menge an Molekülen aus einer Datenbank sortieren und uns nur die wenigen vielversprechendsten ansehen. Für diese Anwendungen arbeite ich mit Chemiker*innen zusammen, die mir helfen, die richtigen Daten auszuwählen, und ich schaue mir die Algorithmen an, die mit den Daten arbeiten.

Was können wir von der Zukunft Ihrer Arbeit ­erwarten – können Sie dazu konkrete Beispiele nennen?

[T. G.]: Ich denke, dass gesundheitsbezogene Fragen oft sehr, sehr interessant sind, und wir können hier viele Fortschritte erwarten. Ich habe in Bonn und in Nottingham mit den Chemiker*innen zusammen an der Entdeckung von Medikamenten ge­arbeitet und unter anderem versucht, Reaktionen, die zur Herstellung von Substanzen wie Medikamenten notwendig sind, umweltfreundlicher, weniger giftig und weniger energieaufwendig zu machen. Ein Projekt, an dem ich mit der Veterinärmedizinischen Fakultät in Nottingham und der Genetik-Fakultät in Leicester arbeite, befasst sich mit der Suche nach Bakteriophagen, also vereinfacht gesagt Viren, die Bakterien angreifen können. Jetzt, da immer mehr Bakterien gegen Antibiotika resistent werden, brauchen wir andere Maßnahmen. Unsere Forschung kann Bakteriophagen schaffen, die eingesetzt werden können, um resistente Bakterien in nicht resistente Bakterien zu verwandeln oder sie an der Vermehrung zu hindern.

Was halten Sie von diesem jüngsten Boom der künstlichen Intelligenz?

[T. G.]: Das ist großartig. Endlich! Ich meine, ich glaube schon seit mehr als 20 Jahren an das Potenzial der Verwendung von Daten und der Extraktion von Wissen daraus. Endlich ist das Thema in der Welt angekommen.

In den 1970er-Jahren gab es den „KI-Winter“, als die Forschung und die Investitionen in diesem Bereich zum Stillstand kamen. Glauben Sie, dass wir wieder eine solche Phase erleben werden?

[T. G.]: Lange Zeit wurde in diesem Bereich viel weniger investiert. Geld ist ein Teil davon, aber es fehlte auch das Interesse und der Enthusiasmus der Menschen. Jetzt, da das Feld so beliebt ist, gibt es eine Menge Investitionen. Ich glaube fest und hoffe, dass wir keinen weiteren KI-Winter erleben werden. Ich meine, es wird immer ein leichtes Auf und Ab geben, aber der allgemeine Trend geht nach oben und es gibt so viele Erfolgsgeschichten. Ich denke, KI ist hier, um zu bleiben; das maschinelle Lernen im Besonderen.

Was sind die größten Herausforderungen für die Forschung im Bereich der künstlichen Intelligenz?

[T. G.]: Es gibt viele Herausforderungen, ich möchte sie hier gar nicht aufzählen. Aber eine ist das Vertrauen in die Algorithmen.

Gibt es da zu viel oder zu wenig Vertrauen?

[T. G.]: Das ist eine bessere Frage! (lacht) Ich denke, oberflächlich betrachtet, dass es zu viel ist; was die Forschung angeht, zu wenig. Wir müssen Algorithmen vertrauenswürdiger machen und dann zeigen, dass sie vertrauenswürdig sind. Es gibt überall Forschungsanstrengungen, auch in Wien, die sich mit Themen wie Vertrauenswürdigkeit, Zuver­lässigkeit, Robustheit beschäftigen. Wir können uns ein auf maschinellem Lernen basierendes System vorstellen, das lebenswichtige Dinge steuert, zum Beispiel gesundheitsbezogene Entscheidungen trifft. Wir müssen wissen, dass im schlimmsten Fall nichts schiefgehen kann. Wenn ein Algorithmus im Internet einen Hund als Katze klassifiziert, ist das Pech, da hat jemand was zu lachen. Aber wenn ein auto­nomes Fahrzeug ein Kind fälschlicherweise als Papier­beutel klassifiziert, wäre das ein großes Problem.

Haben Sie Unterschiede zwischen der KI-­Forschung im deutschsprachigen Raum im ­Vergleich zum angelsächsischen Raum fest­gestellt?

[T. G.]: Für mich war die Forschung schon immer international. Ich gehe zu den wichtigsten internationalen Konferenzen, ich schaue mir die wichtigsten internationalen Zeitschriften an und dann stelle ich manchmal fest: Oh, diese Person ist an der Universität nebenan! Ich würde nicht sagen, dass ich einen großen Unterschied zwischen der Art und Weise, wie Forschung betrieben wird, wahr­genommen habe, vielleicht auf der eher adminis­tra­tiven Seite, wie die Arbeit bewertet wird, ja. Aber nicht in der Forschung.

Thomas Gärtner
leitet den Forschungsbereich Maschinelles Lernen an der TU Wien. Er hat in Bristol und Bonn studiert, war Professor für Data Science in Nottingham und leitete die von der Universität Bonn und dem Fraunhofer-Institut gemeinsam getragene Forschungsgruppe, bevor er an die TU kam.

Was halten Sie davon, dass Frauen in der KI-­Forschung unterrepräsentiert sind?

[T. G.]: Das gilt nicht nur für die KI und nicht nur für die Forschung. Es scheint, dass dies in vielen Naturwissenschaften der Fall ist: Physik, Mathematik, Informatik, Ingenieurwesen. Ich denke, es müssen gleichzeitig Bottom-up- und Top-down-Maßnahmen ergriffen werden. Ein Teil der Bottom-up-Maßnahmen wird sich hoffentlich von selbst ergeben, wenn das Interesse an dem Gebiet zunimmt, und das haben wir in der Vergangenheit beobachtet. Aber natürlich ist es auch wichtig, Top-down-Maßnahmen zu ergreifen. Ein Beispiel wären Stipendien – insbesondere für Frauen – in den MINT-Fächern. Es ist schwer, solche Dinge plötzlich zu ändern. Es muss also Top-down und Bottom-up zusammengehen.

Wie ist die Situation in Ihrer Forschungsgruppe?

[T. G.]: Es ist schwierig, gleich viele weibliche und männliche Forscher*innen einzustellen, weil das Angebot an exzellenten Bewerber*innen nicht sehr groß ist und man keine Kompromisse bei der Qualität eingehen möchte. Außerdem möchte niemand eingestellt werden, wenn es so aussieht, als ob man eine Person nur aus Gründen des Geschlechts einstellt. Unsere Situation ist ausgewogen, aber alle sind hier, weil sie sehr gut in dem sind, was sie tun.

Hatten Sie schon immer vor, zu lehren oder zu forschen?

[T. G.]: Ich mag das deutsche Wort „Wissenschaft“. Bei unserer Arbeit geht es darum, Wissen zu schaffen. Das tut die Forschung – aber nicht, wenn das Wissen nicht kommuniziert wird. Kommunikation ist immer Teil des Schaffens von Wissen. Ich war schon immer daran interessiert und begeistert, das, was ich geschaffen habe, zu vermitteln. Das überträgt sich natürlich auf die Lehre. Natürlich ist das Unterrichten von 200 Student*innen in einem Zoom-Raum, die auf einen schwarzen Bildschirm schauen, nicht so belohnend wie das Unterrichten von fünf Student*innen in diesem Raum (Gärtner schaut sich im Konferenzraum der TU Gußhausstraße um und lächelt, Anm.). Ich würde also nicht sagen, dass ich immer vorhatte, zu forschen oder zu lehren – es ist einfach das, was mich in meinem Leben bisher am meisten fasziniert hat.

Sie sagten, Wissen sollte kommuniziert werden. Was halten Sie vom Konzept der populären Wissenschaft?

[T. G.]: Es ist wichtig, diese zu haben, aber es gibt natürlich einen schmalen Grat. Wie viele Details lassen Sie weg? Wie sehr vereinfachen Sie die Realität? Man muss sachlich korrekt sein und gleichzeitig die Sprache vereinfachen – was gar nicht einfach ist.

Überschneidet sich Ihre Forschung mit Ihren Hobbys?

[T. G.]: Ich habe mein Hobby zu meiner Arbeit gemacht und meine Arbeit zu meinem Hobby. Und dann habe ich natürlich noch andere Dinge, zum Beispiel in der Natur zu sein und eine Weile nicht zu denken, während ich mit dem Fahrrad unterwegs bin. Außerdem Schwimmen, Wandern und Lesen …