David Visnjic

TECHNOLOGISCHE ZUKUNFT und der Opportunity Space von Unternehmen

Unternehmen müssen sich ständig mit der Zukunft auseinandersetzen und visualisieren, wie sich Märkte und Technologien in den nächsten Jahren bzw. Jahrzehnten entwickeln werden – sie haben Science-Fiction sozusagen als strategisches Programm. Die Veränderungskompetenzen (Dynamic Capabilities) entscheiden, inwieweit sie in der Lage sind, den eigenen Opportunity Space zukunftsfähig zu halten.

Text: tuw.media-Redaktion Foto: David Visnjic

Sich DIE ZUKUNFT vorzustellen IST NICHT SO SCHWER, ODER? Beispiele aus der Unternehmenspraxis zeigen jedoch, dass letztlich selbst nahe liegende Systembrüche nicht bzw. nicht in ihrer Tragweite erkannt werden. Zum früheren Microsoft-CEO Steve Ballmer ist anlässlich der Markteinführung von Apples iPhone etwa seine Einschätzung überliefert: „There’s no chance that the iPhone is going to get any significant market share. No chance.“ Wie wohl die Telefonapparatehersteller (z.B. Siemens) Jahre zuvor über die Zukunft der Kommunikation dachten – oder gar ein Jahrhundert zuvor, als sich die Telegrafie mit Morsezeichen (z. B. Reuters) entwickelte? Vielleicht fällt es Menschen und Organisationen doch viel schwerer, Zukunftsoptionen zu kreieren und ihr Verhalten danach auszurichten, als Science-Fiction-Fantasien dies suggerieren.

Im unternehmerischen Kontext wird die Größe des Opportunity Space relevant. Darunter ist jener strategische Raum zu verstehen, den Unternehmen zur Entwicklung neuer Geschäftsmodelle nutzen können. Nicht jede Idee für eine technologische Weiterentwicklung wird sofort umgesetzt, indem Budgets bereitgestellt und Entwicklungsprozesse initiiert werden; was eine Organisation letztlich erfindet, entwickelt und in ein Geschäftsmodell umsetzt, hängt von den unternehmensspezifischen Veränderungskompetenzen (Dynamic Capabilities) ab. Sie markieren die Dimension des Opportunity Space. Wie können Science und Fiction in Unternehmen für eine bessere evolutionäre Entwicklungsdynamik sorgen?

Dynamic Capabilities beinhalten drei Komponenten, die Unternehmen zur Entwicklung neuer Geschäfts­modelle benötigen: Sensing, Seizing und Reconfiguring. Was wir Science-Fiction nennen, dem kommt beim Sensing die größte Bedeutung zu: Sensing umfasst jene Aktivi­täten des Unternehmens, die sich auf die Auseinandersetzung mit Chancen und Gefahren aus dem Umfeld beziehen. Neue Ideen und völlig ungewöhnliche Zukunftsfantasien können durch Mitarbeiter*innen, die über hohes kreatives ­Potenzial verfügen, eingebracht werden. Diversität bei den Mitarbeiter*innen in unterschiedlichen Bereichen erhöht die Wahrscheinlich­keit, dass neue Ideen auch durch Glück und Zufall entwickelt werden. Unternehmen können durch gestalterische Elemente für eine intensive Auseinandersetzung mit Zukunftsideen sorgen. Forschungsab­teilungen, interdisziplinäre Projektteams, Strategieentwicklungsprozesse oder Ventures kreieren einen Kreativraum, durch den möglicher­weise auch in die ferne Zukunft geblickt werden kann. Schließlich tragen Netzwerkkontakte dazu bei, dass vielfältige Sichtweisen den Ideenreichtum im Unternehmen erhöhen.

Science-Fiction kracht an die Unternehmensrealität, wenn es darum geht, dass kreative Ideen selektiert werden müssen. Seizing umschreibt diesen Prozess der Auswahl: Formal oder implizit liegen Kriterien zugrunde, die entscheiden, ob eine neuartige Idee für verfolgenswert betrachtet wird oder nicht. Kodak erfand 1975 die erste tragbare digitale Kamera – tragisch, dass ausgerecht dieses Unternehmen durch die Digitalisierung im Foto­bereich 20 Jahre später in den Konkurs schlitterte. Formal könnte es daran gelegen haben, dass Innovationen um ihre Legitimität kämpfen müssen, denn nur, wenn sich letztlich eine finanzielle Perspektive darstellen lässt, entscheiden sich Unternehmen für eine Weiterverfolgung neuer Projekte. Fehlen formale Kriterien, dann entscheidet das Bauchgefühl einer einzelnen Führungskraft oder die kollektive Einschätzung einer Arbeitsgruppe, ob Projekte weiterverfolgt werden.

Die Realisierung von Science-Fiction erfolgt in Change- und Innovationsprozessen, die als Reconfiguring bezeichnet werden, da sich die Idee letztlich in neuen Geschäftsmodellen, innovativen Produkten oder veränderten Geschäfts­prozessen wiederfinden muss. Die Kunst, Veränderungs- und Innovations­prozesse gut aufzusetzen und konse­quent zu exekutieren, entscheidet letztlich, ob völlig neuartige Ideen Spuren in der Realität hinterlassen werden.

Entlang der Kompo­nenten der Dynamic Capabilities können Unternehmen analysieren, wie groß die Fantasie ist, um neuartige Ideen – auch aus dem Bereich der Science-Fiction – zu gewinnen, darüber Entscheidungen zu treffen und sie letztlich auch umzusetzen. Dadurch lässt sich wiederum der Opportunity Space ermessen, der entscheidet, wie dynamisch das jeweilige Unternehmen die Zukunftsherausforderungen meistern könnte. Dies wird auch dadurch sichtbar, ob Unternehmen im Bereich des Sensing nach neuen Ideen lediglich im unmittelbaren Umfeld, im Bereich der bestehenden Technologien und Märkte und mit einem überschaubaren Zeithorizont suchen, oder ob mit großer Energie versucht wird, weit über die bestehenden Grenzen des Geschäftsmodells hinauszu­blicken. Welche Kriterien wenden Unternehmen an, um über innovative Ideen im Seizing zu entscheiden, und inwiefern passen sie zur notwendigen Veränderungsdynamik des Unternehmens, die sich aus dem Markt oder aus der Entwicklung der Technologien ableiten lässt? Schließlich lässt sich mit Blick auf Reconfiguration die Kompe­tenz des Unternehmens analysieren, Veränderungs- und Innovationsprozesse so zu gestalten, dass aus Projekten letztlich konkrete Geschäftsmodelle, Produkte oder optimierte Prozesse entstehen. Wenn Science-Fiction real werden soll, dann muss die Idee nicht nur weit genug entfernt von der derzeitigen Sichtweise im Unternehmen sein, sondern es auch durch das Nadelöhr der unternehmensinternen Entscheidungsfindung und konsequenten Umsetzung schaffen.

Wolfgang H. Güttel leitet die TU Wien Academy for Continuing Education, die alle Themen rund um postgraduale Weiterbildung an der Hochschule betreut. In seiner Kolumne für dieses Magazin schreibt er über das richtige Mindset für erfolgreiches Leadership.

Text: Wolfgang H. Güttel