Strahlend schön

Moderne Mini-Atomkraftwerke sollen billig und sicher Strom liefern und weniger an radioaktivem Müll produzieren – doch Fachleute haben Zweifel an den Versprechen der Branche.

Text: tuw.media-Redaktion

Die Zukunft der Kernkraft sieht freundlich aus. Ein Gebäude aus Glas und Stahl duckt sich in eine sommerliche Landschaft, der Bau erinnert an einen modernen Unicampus oder an die schicke Zentrale eines Tech-Konzerns. Er steht in einer Wiese voller Pusteblumen, unter einem wolkenlosen Himmel. Doch hinter der glänzenden Fassade verbirgt sich die umstrittenste und wohl gefährlichste Energiequelle der Welt: ein Atomreaktor.

Das futuristische Kernkraftwerk ist nicht real. Es existiert nur als Animation in einem Werbevideo der Firma Rolls-Royce SMR. SMR steht für Small Modular Reactor und beschreibt ein Atomkraftwerk im Kleinformat. Es ist schneller und günstiger herzustellen, produziert weniger Müll und sieht sogar ansprechender aus als herkömmliche Kernkraftwerke. Vor allem aber liefert es zuverlässig Strom. Das verspricht zumindest Tom Samson, der CEO von Rolls-Royce SMR.

Der 53-Jährige – breite Schultern, kantiger Kiefer, blondes Haar – glaubt: Die Atomkraft steht vor einer Renaissance. Der Schotte arbeitet seit fast 30 Jahren im Energiesektor und setzt damit eine Familientradition fort. Sein Großvater schuftete in den Kohleminen in Fife an Schottlands Ostküste. „Das war ein harter und unbarmherziger Job“, erzählt der Topmanager. „Moderne und saubere Energie“ zu fördern, erklärt er, dazu verpflichte die Herkunft. Und er sieht einen historischen Auftrag: „Ohne Atomenergie werden wir niemals eine klimaneutrale Welt haben.“

Der Bedarf an günstigem und verfügbarem Strom wächst rasant. Die Dekarbonisierung, die Entwicklung klimafreundlicher Technologien, der Betrieb von Millionen Batteriefahrzeugen und das Ende der fossilen Brennstoffe werden enorme Mengen an Energie benötigen, was die aktuelle Versorgungskrise weiter verschärfen dürfte – zumal geopolitische Risiken und Krisen, etwa die russische Invasion der Ukraine, zeigen, wie wichtig mehr Unabhängigkeit in der Energieversorgung ist.

Auch deshalb will die EU die Atomkraft nicht abschreiben, sondern sie mit der Taxonomie als nachhaltig und klimafreundlich einstufen. Frankreich will in den kommenden Jahren 14 neue Meiler bauen – um energetisch unabhängig und im Jahr 2050 klimaneutral zu sein, so die Begründung.

Die Atomwirtschaft sieht einen gigantischen Zukunftsmarkt, vor allem für Innovationen in der Nukleartechnologie, zu denen bewegliche, flexible und günstige Minimeiler wie die SMRs gehören. An rund 66 Konzepten wird weltweit getüftelt. Russland betreibt bereits einen Kleinreaktor auf einem Schiff an der sibirischen Küste, auch in China und Argentinien entstehen Prototypen. Zu den vielversprechendsten Nuklear-Start-ups in Europa gehört Rolls-Royce SMR.

Tom Samsons wichtigste Geldgeber sind der Staat Katar, der 100 Millionen € investiert, und die britische Regierung, die 200 Millionen € zuschießt. Mindestens 15 SMRs sollen auf der Insel gebaut werden und „in den frühen 2030er-Jahren“ in Betrieb gehen. Der Exportmarkt soll 400 Milliarden € schwer sein, glaubt Samson. Standorte sieht er in Polen und Tschechien, in Nahost sowie in Australien und Südafrika. Interesse aus Deutschland erwartet der Manager nicht, was er bedauert: „Durch Deutschlands Atomausstieg wurden so viele Möglichkeiten verpasst – das tut mir sehr leid
für meine deutschen Kollegen.“

Samsons Kunden bekommen ein Alles-inklusive-Paket: Rolls-Royce leitet den Bau und stellt das Personal. Vom ersten Spatenstich bis zum Anschluss an das nationale Stromnetz sollen nur fünf Jahre vergehen. Alle Komponenten werden in Serie in einer Fabrik vorgefertigt und können per Truck transportiert und vor Ort zusammengebaut werden – nicht zuletzt dank künstlicher Intelligenz und Automatisierung.Bis zu 470 Megawatt an billigem Strom sollen die Mini-AKWs liefern. Das würde den Energiehunger einer Großstadt locker stillen. Für dieselbe Menge müsste man rund 150 Windräder bauen, rechnet Rolls-Royce vor. Der Reaktor würde die Fläche von zwei Fußballfeldern belegen – und „nur“ rund zwei Milliarden Pfund kosten. Zum Vergleich: Hinkley Point C, das teuerste Atomkraftwerk der Welt im englischen Somerset, wird wohl 23 Milliarden Pfund verschlingen – und nicht vor 2026 Strom liefern.

Es klingt so einfach: Der AKW-Bau nach dem Prinzip Lego. Doch ist emissionsfreie Kernenergie wirklich ein Kinderspiel? Gutachter aus Deutschland und Österreich sehen das ganz anders – und warnen vor der neuen Nukleartechnologie und den Versprechen der Atom­wirtschaft. Die Erzählung vom Minimeiler als Klimaretter halten sie für einen Marketing-Gag. Reinhold Christian, geschäfts­führender Präsident von Forum Wissenschaft & Umwelt, sagt: „Alte Ideen, die es schon seit den 50er-Jahren gibt, werden als Innova­tionen verkauft, um an staatliche Fördergelder zu kommen. Ohne diese Zuschüsse könnte Atomstrom niemals wirtschaftlich sein.“

Der Physiker und seine Fachleute haben die SMR-Konzepte untersucht und kommen zu dem Schluss: Will man dem Klimawandel begegnen, geht das mit Energie­effizienz und erneuerbaren Energien sicherer, schneller, natur­verträglich – und billiger. „Strom aus nachhaltigen und erneuerbaren Energieträgern wie Wind und Sonne ist schon heute deutlich billiger als Atomenergie“, sagt Physiker Christian.

Denn der vermeintliche Vorteil der Kleinreaktoren – ihre geringe Größe – kann sich schnell als Nachteil erweisen. Das deutsche Bundesamt für die Sicherheit der nuklearen Entsorgung, kurz Base, rechnet vor: Um die weltweit 400 großen Reaktoren zu ersetzen, müssten bis zu 10.000 SMR-Anlagen gebaut werden. Selbst wenn sie nur als Ergänzung zur bestehenden Kernkraft dienten: Die spezifischen Baukosten je Megawatt Leistung wären weiterhin höher als bei erneuerbaren Energien in Verbindung mit Speichern.

Hinzu kommen nicht zu übersehende Sicherheits­risiken: Je mehr Anlagen an vielen unterschiedlichen Orten entstehen, desto schwieriger und teurer sei deren Überwachung. Im Falle einer weltweiten Verbreitung der SMR-Technologie steige die Gefahr der Proliferation – also der Nutzung für militärische Zwecke wie die Herstellung von Kernwaffen. Auch könnten die SMRs leichter zu Zielen von Terroristen werden.

Vor allem aber kritisieren die Fachleute das Versprechen „kleiner Reaktor, weniger Abfall“. „Da sehen wir ebenfalls keine Verbesserung der Situation“, sagt Experte Christian. Logistik, Brennstoffversorgung und Wartung werden schwieriger – wegen der hohen Menge an Meilern und der Auflagen für Urantransporte. Das Problem der Endlagerung betrachte man als „nicht lösbar“.

Ganz anders sieht man das in einem Industriegebiet südlich von Leicester. In der Fabrikhalle
von Cavendish Nuclear steht Lee Whitworth, 46, ein Gentleman mit grau meliertem, gelocktem Haar, vor der Attrappe einer weiteren Atom-Innovation: einem AMR – einem Advanced Modular Reactor.

Das Modell des Meilers ist ein grauer Kessel, der sich 15 Meter hoch und drei Meter breit bis unter das Hallendach streckt. U-Battery heißt das Start-up, das zum Uran­anreicherungskonzern Urenco gehört und gemeinsam mit dem britischen Konzern Cavendish Nuclear in weniger als zehn Jahren den Kleinstreaktor herstellen will.

Atomstrom aus der Batterie – so simpel ist das Konzept. „Plug and play“ sagt Whitworth dazu;
es sei besonders interessant für Bergbau­konzerne, die für Minen in ent­legenen Regionen emissionsfreie Energie brauchen – und für Einrichtungen mit hohem Energiebedarf wie Gewächshäuser, Fabriken oder Krankenhäuser. Auch grüner Wasserstoff könnte mit dem Atomstrom aus der Dose erzeugt werden, und Dörfer auf griechischen Inseln, wo schmutzige Diesel­generatoren Energie liefern, würde Whitworth auch gern an ein AMR anschließen.

Für Freunde der Atomenergie klingen die Pläne sinnvoll – zumal die Reaktoren nur 60 Millionen € kosten und 30 Jahre in Betrieb sein sollen. „Wir alle müssen zusammenarbeiten, um eine klimaneutrale Welt zu erreichen“, sagt Ingenieur Whitworth. Und: „Es ist wirklich eine sehr aufregende Zeit für die Atomwirtschaft.“

Auf die Frage, wohin man am Ende mit all dem Atommüll solle, hat auch er keine überzeugende Antwort. Firmen wie Cavendish Nuclear argumentieren, die Abfallproblematik werde übertrieben dargestellt, vor allem, wenn man sie im Verhältnis zu den vielen Vorteilen der Nukleartechnologien betrachte. Allerdings werden jedes Jahr weltweit rund 12.000 Tonnen nukleare Abfälle der gefährlichsten Kategorie produziert. Erst im kommenden Jahr wird das erste Endlager für hoch radioaktive Abfälle in Finnland eröffnet: In 500 Meter Tiefe sollen unter einer Insel rund 6.500 Tonnen Abfall in Kupfer verpackt hinter Gesteinsschichten deponiert werden.

Es bräuchte aber viel mehr dieser Anlagen, um schon heute den global anfallenden Atommüll dauerhaft lagern zu können. Eine Idee wäre, dass ausgerechnet die Gasindustrie hilft und Atommüll­fässer in Fracking-Bohrlöchern versenkt. Neuartige Reaktoren der vierten Generation sollen rund 96 Prozent der ungenutzten Altlasten selbst recyceln können – vor allem Uran und Plutonium – und daraus neue Energie generieren. Reaktoren mit eingebauter Resteverwertung – diese Konzepte sind teuer und frühestens 2030 einsatzbereit.

Die charmanteste Idee haben die Physik-Nobelpreisträger von 2018, Gérard Marou und Donna Strickland. Sie wollen den Abfall einfach in Luft auflösen: Atomkerne sollen mit starken Laserpulsen beschossen und radioaktive Isotope so unschädlich gemacht werden. Den Müll weglasern – bislang eine Utopie.

Was Gegner und Befürworter der Kernkraft verbindet: Sie hoffen auf die Zukunft. Die Gegner argumentieren, je schneller und weiter saubere Energiequellen ausgebaut werden, desto unattraktiver und unwirtschaftlicher werde die Kernkraft. Befürworter sagen, ohne zuverlässige Atomenergie gelinge die schnelle Transformation zu einer klimaneutralen Gesellschaft niemals.

Atomenergie-Freund Tom Samson glaubt, dass die weiter steigenden Stromkosten viele Skeptiker zum Umdenken bringen werden. „Wir wollen mehr Kon­sumenten vom Nutzen der Atom­energie überzeugen“, sagt der Manager. „Denn die Politik wird unsere Energieprobleme nicht lösen können.“

Text: Reinhard Keck
Fotos: Rolls-Royce

Dieser Artikel erschien in unserer Ausgabe 1–22 zum Thema „Klima“.