Luiza Puiu, ITF Day

SMARTE STÄDTE

FÜR DEN DURCHSCHNITTSMENSCHEN ist Verkehr ein Mittel zum Zweck. Für Stadtforscher ist er jedoch die Essenz einer smarten Stadt. Dazu gehört auch Katja Schechtner die im Gespräch einen Fahrplan in die Mobilität der Zukunft entwirft.

Text: Olivia Chang Foto: Luiza Puiu, ITF Day

Der Artikel erschien in der Ausgabe 1–21 „Mobilität“.

WENN KATJA SCHECHTNER İN EİNEN ZUG STEİGT, denkt sie nicht nur daran, wie lange es dauern wird, bis sie am Ziel ankommt. Vielmehr denkt sie an zahlreiche andere Dinge – alle zugleich: Ist das effizient? Sicher? Kostengünstig? Und vor allem: Macht es Spaß? Die österreichische Stadt- und Mobilitätsforscherin hat sich während ihrer gesamten Laufbahn darauf konzentriert, den Weg von A nach B zu verbessern. Das inkludiert alle Wege, die wir zurücklegen, wenn wir uns in die Arbeit, in die Schule oder zu Freunden und Freundinnen begeben oder auf Reisen gehen.

„Ich analysiere, wie sich Menschen bewegen, wie sie sich dabei fühlen und wie sie ihre Umgebung wahrnehmen“, sagt Schechtner. „Ich sehe das als eine Choreografie zwischen Menschen und Infrastruktur.“ Die Österreicherin trägt mehrere Hüte: Sie ist als Forscherin für das Media Lab des Massachusetts Institute of Technology (MIT) tätig, zugleich ist sie Aufsichtsratsmitglied des Austrian Institute of Technology (AIT), und bis vor Kurzem beriet sie zudem als Urban Scientist die OECD (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung).

DIE MENSCHEN WERDEN ZUERST EINMAL REISEN WIE VERRÜCKT. UND WENN SIE IHR BEDÜRFNIS BEFRIEDIGT HABEN, ERINNERN SIE SICH VIELLEICHT DARAN, DASS MANCHES WÄHREND DER LOCKDOWNS GAR NICHT SO SCHLECHT WAR.

Katja Schechtner, Mobilitätsforscherin

Im Rahmen ihrer Arbeit hat Schechtner 80 Länder besucht, bis heute nannte sie schon mehr als zehn Städte ihr Zuhause. Ein Leben auf Achse heißt auch, dass Schechtner oft mit verschiedenen Transportmitteln experimentiert: So fuhr sie mit Rikschas in den Straßen von Nepal, mit Limousinen in Manila oder einem Uber in Boston. „Es gab ein Jahr, in dem ich 74 Flüge machte – ich habe es gehasst. Aber meine Arbeit ist nun mal international“, sagt sie, „denn wie soll ich zum Mobilitätssystem eines Ortes beraten, an dem ich noch nie gewesen bin? Das ist ein absolutes No-Go.“

Als wir uns über Zoom zum Interview treffen, wirkt dieser Globetrotter Lebensstil völlig surreal. Seit einem Jahr ist Schechtner „glücklich von Covid-19 in Wien geerdet worden“ und berät Regierungen von ihrem Küchentisch aus. „Wir sahen zwei divergierende Strömungen des Mobilitätsverhaltens: Die eine war, dass vielealle zurück ins Auto gingen. Und die andere war das vermehrte Zu-Fuß-Gehen und Radfahren“, sagt Schechtner. Die Städte sprangen schnell auf den Trend auf.

Mitten im Lockdown kündigte etwa Paris an, 650 Kilometer neue Radwege zu bauen. Mailand rollte eine eigene Version der „Strade Aperte“ aus, mit neuen Radwegen und breiteren Gehsteigen für Fußgänger. Schechtner begrüßt die Neuaufteilung des Raums, mahnt aber zugleich: „Pop-up-Radwege schön und gut. Aber sie müssen Teil einer langfristigen Planung sein, um dann dauerhaft zu bleiben.“ Wird die Krise unser Mobilitätsverhalten langfristig verändern? „Das ist wirklich die schwierigste Diskussion, die ich mit meinen Kollegen gerade führe“, gibt Schechtner zu. „Die Leute werden zuerst einmal reisen wie verrückt. Nachdem sie das Bedürfnis jedoch befriedigt haben, werden sie sich vielleicht daran erinnern, dass manches während der Lockdowns gar nicht so schlecht war; dass man für etwas, das in 15 Minuten zu Fuß oder mit dem Fahrrad zu erreichen ist, nicht Auto fahren muss.“ Schechtner hofft jedenfalls darauf: „Wir hoffen, dass die Menschen merken, dass sie gar nicht so viel Mobilität brauchen. Es wäre doch schön, einen langen Urlaub zu machen – statt fünf kurze.“

„Wir stellen uns aktuell eine Zukunft vor, die autonom, gemeinsam genutzt, elektrisch und vernetzt ist“, sagt Katja Schechtner zur Mobilität von morgen.

DER UNGEWÖHNLİCHE AUSGANGSPUNKT für Schechtners weltweite Reise war St. Pölten. Sie beschreibt ihre Jugend als eine Mischung aus Zufällen, die ihre Begeisterung für die Stadtplanung nährten. „Ich wusste bis Mitte 30 nicht wirklich, was ein klassischer Strandurlaub ist“, lacht Schechtner, als sie sich erinnert, dass sie die meisten Familienausflüge mit Museumsbesuchen und Architekturbesichtigungen verbrachte. „Was mir an der Architektur gefiel, war, dass sie kreativ und gleichzeitig praktisch war. Ein Haus zu bauen, in dem Menschen leben können, klang für mich nach einer sinnvollen Aufgabe“, sagt sie.

Während ihrer Schulzeit an einer Privatschule für Mädchen schloss sich Schechtner einem Klub für junge Programmierer*innen an, der von der örtlichen Bank gesponsert wurde. „Wir reden hier von den 1980er-Jahren, wir arbeiteten also mit Commodore 64 (8-Bit-Heimcomputer, Anm.)“, sagt sie. „Da habe ich zum ersten Mal gesehen, dass man mit Mathematik und Physik kreativ arbeiten kann.“ Die Arbeit zahlte sich aus: Just als sie ihr Masterstudium (Architektur und Stadtplanung an der Technischen Universität Wien) absolviert hatte, explodierte die Diskussion über Smart Citys. Mit Wissen im Programmieren und Architektur-Know-how war Schechtner plötzlich gefragt. „Kaum jemand verfügte über beide Denkweisen“, sagt sie – obwohl sie zugibt, dass ihre Programmierkenntnisse „grauenhaft“ sind. Wien war dann schnell nur eine von vielen Stationen. 2013 packte Schechtner ihre Koffer für die Philippinen, um als Transportspezialistin für die Asiatische Entwicklungsbank (ADB) zu arbeiten. Später arbeitete sie als Senior Advisor für die Inter-American Development Bank in Costa Rica und Argentinien.

Der Schmelztiegel an Erfahrungen hat der selbst ernannten urbanen Nomadin einen einzigartigen Blick auf lokales Mobilitätsverhalten gegeben. „Die Küchen der Welt bestehen aus Kohlehydraten, Proteinen, Fetten und einigen Gewürzen. So essen wir alle das Gleiche,“, sagt Schechtner. „Und auch beim Transport gibt es nur eine endliche Anzahl von Zutaten. Wichtig ist aber, wie man sie kombiniert. Wie blöd wäre es denn, ein U-Bahn-Liniensystem in einem Sumpfgebiet zu bauen? Man muss sich an die Gegebenheiten anpassen und die richtigen Zutaten finden – seien es nun Autos, Fahrräder, Straßenbahnen oder die U-Bahn.“

Katja Schechtner
studierte Architektur und Stadtplanung an der TU Wien. Heute ist die Mobilitäts- und Stadtforscherin für das MIT Media Lab, als Aufsichtsrätin für das Austrian Institute of Technology (AIT) sowie als Beraterin für die OECD tätig

HEUTE LEBT MEHR ALS DİE Hälfte der Weltbevölkerung in urbanen Gebieten, Tendenz steigend: Die Vereinten Nationen gehen davon aus, dass im Jahr 2050 mehr als zwei Drittel der Weltbevölkerung in Städten leben werden. Für Mobilitätsexperten wie Schechtner besteht der Weg in die Zukunft darin, innovative Politik und Technologie miteinander zu verbinden. „Wir stellen uns aktuell eine Zukunft vor, in der die gesamte Mobilität autonom, gemeinsam genutzt, elektrisch und vernetzt ist“, sagt sie.

Schechtner selbst hat diese Zukunft bereits in ihren Alltag integriert. „Ich bin eine aktive Benutzerin von Mitfahrgelegenheiten“, sagt sie. Schechtner hatte nie ein Auto. Obwohl sie grundsätzlich nicht gegen Autos ist, befürwortet sie kleinere, leichtere Fahrzeuge in der Stadt. Ein Beispiel ist „Buddha Pedal Power“ in Nepal – ein Dreirad-Pedicab-Projekt, das Schechtner 2017 mit MIT-Forschern und der ADB initiierte. „Ich würde gerne mehr davon in Städten im Westen sehen“, so die Forscherin.

Darüber hinaus geht es ihr auch darum, die Straßen zurückzuerobern, um sie multifunktional zu machen. Zu den erfolgreicheren Projekten in Stadtgebieten gehört die 1,6 Kilometer lange Mariahilfer Straße, Österreichs ­größte Einkaufsstraße. Die Straße gilt als einer der längsten „Shared Spaces“ in Europa. „Mal ganz ehrlich: Braucht man ein Auto, um ein T-Shirt von Zara nach Hause zu transportieren?“, fragt Schechtner rhetorisch. Doch solche Projekte sind erst der Anfang: Schechtner denkt an eine Zukunft, in der eine Straße am Morgen als Bushaltestelle, zu Mittag als Gastronomiezone und außerhalb der Stoßzeiten als Spielplatz dient. „Funktionalität und Nutzung können sich innerhalb von 24 Stunden stark verändern“, sagt die Forscherin.

Doch Schechtner ist nicht darauf aus, jede Stadt in eine skandinavische Verkehrsutopie zu verwandeln. „Es ist dumm, zu denken, dass jede Stadt Kopenhagen werden kann.“ Doch sie glaubt sehr wohl daran, dass mit der richtigen Mischung aus Forschung, Investitionen und politischen Entscheidungen die Mobilität in Städten funktional wie auch angenehm sein kann.

Doch was denkt sie über ihre Heimatstadt Wien? „Wenn ich in Wien bin, meckere ich über all die Probleme, die es gibt – und ich kann da massenweise aufzählen. Doch wenn ich im Ausland bin, schäme ich mich immer ein bisschen, weil ich eigentlich so stolz auf Wien bin“, schmunzelt sie. „Als Stadt funktioniert Wien sehr gut – die Größe, die Dichte, der Service. Auf einer Skala würde ich nie eine Zehn vergeben, doch Wien würde schon eine Acht plus für die Mobilität bekommen.“