Nini Tschavoll

„Reisen war die Ultima Ratio“

Schon immer träumte der Mensch davon, sich möglichst schnell von einem Ort zum nächsten zu bewegen. Am Anfang trugen ihn dabei seine Füße, später Nutztiere und Kutschen. Seit der Industrialisierung bewegen wir uns in Autos, Zügen und Flugzeugen fort. Doch das Reisen war nicht immer so sicher wie heute. Die Universitätsprofessorin Claudia Rapp unter­suchte die Mobilität in Byzanz. Zwar änderte sich in  der Fortbewegung seither so einiges – die Gründe für Mobilität blieben jedoch dieselben.

Text: Muamer Bećirović Foto: Nini Tschavoll

Der Artikel erschien in der Ausgabe 1–21 „Mobilität“.

Wie mobil waren denn die Menschen im Byzantinischen Reich vor 1.000 Jahren?

Claudia Rapp: Das lässt sich nicht pauschal beantworten. In der Mobilitätsforschung versucht man, Mobilität zu katego­risieren. Man spricht einerseits von der Binnenmobilität – es gab Bildungs­­zen­tren in dem Staat, in die die Menschen wollten, um das höchste Niveau der Bildung zu bekommen und sich ­damit den sozialen Auf­stieg zu erarbeiten. In meiner Forschung ist das Konstantinopel. Es gab auch Berufszweige, die mobil waren, wie das Militär, die Handelsleute und die Kleriker. Die Bischöfe wurden etwa von einem Ort an einen anderen versetzt. Andererseits gab es Unterhalter, die viel reisten, oder auch Handwerker und Bau­leute, die hochmobil waren. Das können wir anhand von physischen Rückständen beobachten: Dieselben Steinhauer hinterließen an verschiedenen Orten ­Mosaiksteine im gleichen Stil.

Das ist ja grundsätzlich nicht anders als heute. Doch wie mobil war die breite Masse?

[C. R.]: Das ist eine grundsätzliche Frage. Mobilität passierte damals nicht um der Mobilität willen. Geografische Beweglichkeit ist immer mit dem Wunsch nach sozialer Bewegung verbunden. Man will sein Leben verbessern, bewegt sich zum nächsten Job oder zu einem Ort, an dem die Einnahme­quellen besser sind; womöglich will man anderswo eine bessere Bildung und bessere Chancen. Das ist heute nicht anders als damals.

Deswegen ist es wichtig, nicht nur die Bewegungen der Menschen auf den Landkarten zu verfolgen, sondern auch, was sie dazu brachte und wie sich ihre Lebensgeschichten am Ankunftsort veränderten. Durch den Wittgenstein-Preis hatte ich die finanziellen Möglichkeiten, mit meinem Team eine große Menge an Quellen zu ­bearbeiten, um zu einer Gesamtdarstellung der ­Bewegungsströme zu kommen.

Was ich bisher sagen kann, ist, dass der Kaiser oft bestimmte Regionen besiedelt hat, weil sie durch Kriege entvölkert worden waren, oder um eine kriegführende Bevölkerung zu formen. Das war eine Form der zentralen Steuerung. Bauern verblieben großteils am selben Ort, weil die verlässliche Lieferung von Steuereinnahmen wichtig war.

Wie darf man sich die Reiseumstände in dieser Zeit vorstellen?

[C. R.]: Wir haben es mit einer Gesellschaft zu tun, in der das Überleben von der Stärke der eigenen Netzwerke abhängt. Diese Netzwerke sind zuerst einmal die enge Familie und die Großfamilie. Als Nächstes folgt die Verwurzelung am Standort. Wenn man umzieht, tut man das möglichst an einen Ort, wo man anknüpfen kann. Wir kennen unzählige Beispiele von klugen jungen Männern in den Provinzen, die nach Konstantinopel wollten, weil sie dort einen Onkel hatten und ihre Ausbildung fortsetzen wollten.

Dieses Phänomen war zumindest in den Eliten stark ausgeprägt. Diese Netzwerke öffneten einem berufliche Türen und gaben Einwanderern soziale und materielle Sicherheit. Es gab ja damals keinen Sozialstaat wie heute. Man reiste nicht aus Vergnügen, sondern ausschließlich, um einen praktischen Nutzen zu erreichen. ­Reisen war gefährlich – man konnte von Straßen­räubern überfallen werden und ­sterben.

Außerdem war es selbstverständlich eine Kostenfrage: Nur wenn man Geld in der Tasche hatte, konnte man in einem Gasthaus übernachten und seine Pferde, falls man welche hatte, versorgen, um am nächsten Tag wieder aufzubrechen.

Man reiste früher nicht aus vergnügen – reisen war gefährlich. außerdem war es selbstverständlich
auch eine kostenfrage.

Claudia Rapp, Professorin, Universität Wien

Zusammengefasst scheinen die Un­ter­schiede zu heute nicht enorm groß. Es sind lediglich die Reisemittel ­komfortabler und sicherer ­geworden …

[C. R.]: Wir wissen aus den Quellen, dass es Angst vor der Reise und auch vor dem gab, was einen am Ankunftsort er­warten würde. Man reiste damals nicht aus Spaß, sondern als letzte Option auf eine bessere Zukunft. Reisen war die Ultima Ratio – sei es nun für ­Kriegsflüchtlinge oder weil Natur­katastrophen die Landwirtschaft von Bauern zerstörten.

Aber wer reiste in Byzanz?

[C. R.]: Hauptsächlich die Elite. Vergleichen Sie das mit heute: Heute fliegt lediglich eine bestimmte bürgerliche Gruppe von Menschen. Sie müssen sich mal vorstellen, wie viele Menschen sich heute keine Zwölf-Stunden-Fahrt mit dem Bus leisten können. Die gibt es auch in Österreich.

Wie intensiv wurde damals gereist?

[C. R.]: Sie müssen sich immer nach dem Radius fragen. Er wird durch die ­Finanz- und Transportmöglichkeiten bestimmt. Wenn man zu Fuß unterwegs war, musste es für einen Bauern möglich sein, innerhalb einer Tagesreise nach Konstantinopel – wo er seine Landwirtschaftsprodukte verkaufte – und wieder nach Hause zu kommen. Als Bauer ging man also nicht weiter weg.

Wenn man allerdings einen Esel oder gar ein Pferd hatte, dann ­wurde der Radius automatisch größer. Der Kaiser besaß hingegen eine Sommerresidenz und bewegte sich problemlos. Bei Händlern war es wiederum eine Finanz- und Profitfrage. Handel und Reisen zur See waren schneller und ­billiger als zu Land, doch das erforderte ein gewisses Kapital. Wir wissen, dass einfache Menschen große Schwierigkeiten hatten, ein „Ticket“ am Wasser zu bezahlen. Die Frage nach den Reisekosten stellt man sich heute noch.

Wie viel Gepäck wurde mit­ge­nommen?

[C. R.]: Die Gegenstände, die mobil waren, verraten viel über den Menschen, der sie besaß. Beforscht man die byzantinische Kunst sowie Schriften, Artefakte und andere Dinge aus dieser Zeit, dann befinden sich diese meist außerhalb von Byzanz. Die Frage ist: Wie sind die da hingekommen?

Damit kann man die Bewegungen des jeweiligen Objekts und der Menschen, die es bei sich führten, rekon­struieren. Ich erwähne das, weil die TU Wien eine Zusammenarbeit mit der Akademie der bildenden Künste und der Universität Wien hat, um mittelalterliche Handschriften mit modernen technischen Mitteln wie Computer Visualisation zu ergründen. Damit können wir solchen Gegenständen ihre Geschichte entlocken.

Warum haben sich Objekte damals überhaupt bewegt? Die müssen doch eher Ballast gewesen sein.

[C. R.]: Es kommt immer auf die Gegen­stände an. Es ist dasselbe soziale Phänomen wie im 19. Jahrhundert oder heute: Man nahm wertvolle Gegenstände zur Sicherheit mit, seien es Ikonen, Gold, Silber oder damals sehr beliebte Seidenstoffe aus Byzanz. ­Warum? Weil man Wertgegenstände notfalls auch verscherbeln kann, wenn man das Geld schnell braucht. Aristokratinnen im 19. Jahrhundert sind aus diesen Gründen mit ihrem Schmuck gereist, weil er zu flüssigem Kapital gemacht werden konnte.

Gab es Erkenntnisse, die Sie in Ihrer Forschung überrascht haben?

[C. R.]: Einmal hat ein Feldherr, dem ein Stück Land zugeordnet war, an einem anderen Ort eine Klosterschule gegründet. Was mir nicht bewusst war, ist das schiere Ausmaß der kaiserlichen Zwangsumsiedlungen und der damit verbundenen Schicksale. Das sagt viel darüber aus, wie Staat und Kaiser mit der Bevölkerung umgingen und was man bereit war, ihr zuzumuten.

Was hat Sie besonders beeindruckt?

[C. R.]: In einigen Bischofsberichten wurde festgehalten, wie Frauen sich gezwungen sahen, sich über weite Entfernungen zu bewegen. Sie erkämpften sich vor Gericht ihr Recht gegen gewalttätige Ehemänner, oder ihr Erbe. Diese Frauen sind teilweise bis zu eine Woche lang zu Fuß gelaufen, um das tun zu können. Diese Einzelschicksale sind schon sehr beeindruckend.

Claudia Rapp
ist Professorin an der Universität Wien und Leiterin der Abteilung der Byzanzforschung am Institut für Mittelalterforschung an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. 2015 erhielt sie den Wittgenstein-Preis der Uni­versität Wien.