Letztendlich wurde ihr ihre Schönheit zum Verhängnis – denn die trojanische Prinzessin Kassandra war laut griechischer Mythologie ähnlich schön wie die Liebesgöttin Aphrodite, was dazu führte, dass sich der Gott Apollo in sie verliebte. Er verlieh ihr sogar die Gabe des Sehens, also des richtigen Voraussagens der Zukunft. Da Kassandra Apollos Liebe nicht erwiderte, belegte er sie jedoch mit einem Fluch: Kassandra würde die Zukunft sehen können, glauben würde ihr jedoch niemand.
Sie erkannte zwar den Trick der Griechen, im Bauch des heute sprichwörtlichen Trojanischen Pferds in die Stadt zu gelangen, doch niemand hörte auf sie. Kassandras Geschichte wurde oft erzählt, und dennoch ist sie vergleichsweise unbekannt. Symbolische Bedeutung hat sie dennoch. „Kassandra wurde oft als Verrückte oder Hysterikerin gesehen. Dabei ist sie lediglich eine blickscharfe Beobachterin – die das, was sie sieht, in Worte fasst“, so Jürgen Wertheimer.
Wertheimers Verknüpfung mit der Figur und ihrem Namen geht über eine oberflächliche Beschäftigung deutlich hinaus. Vielmehr hat der emeritierte Professor der Universität Tübingen die missverstandene Wahrsagerin zur Namensgeberin dessen gemacht, was man getrost als sein Lebensprojekt bezeichnen kann: „Projekt Cassandra“. Dahinter versteckt sich das auf den ersten Blick wahnwitzige Unterfangen, die Zukunft vorauszusagen – und zwar nicht mithilfe der besten Daten, Technologien oder von Wissenschaftler*innen, sondern durch die Lektüre von Büchern.
Laut Wertheimer ist klar: Wer weiß, wie man Bücher lesen muss, und dabei auch ihre Rezeption in der Gesellschaft miteinbezieht, hat gute Chancen, vorauszusagen, wann die Stimmung in bestimmten Regionen hochkochen und bewaffnete Konflikte oder sogar Kriege ausbrechen könnten. Und zwar nicht nur kurzfristig: Laut Wertheimer können solche Krisen ganze fünf bis sogar sieben Jahre im Vorhinein prognostiziert werden.
Dass das auf Interesse stößt, ist klar. Letztendlich zur Realität machte das Projekt das deutsche Verteidigungsministerium, das es ab 2017 finanzierte; top secret natürlich. Die Coronaviruspandemie beendete die Zusammenarbeit, „Projekt Cassandra“ wurde auf Eis gelegt. Doch Wertheimer hat keine Lust, sein Wissen und seine Erkenntnisse ungenutzt zu lassen – und startet den nächsten Versuch, Kassandras Reputation wiederherzustellen.
Die Zukunft voraussagen zu wollen ist kein neuer Wunsch der Menschheit. Und gerade heute, zu Beginn des 21. Jahrhunderts, das mit den Terroranschlägen am 11. September 2001 gestartet war, eine globale Finanzkrise durchlebte und nun von einem sich global ausbreitenden Virus lahmgelegt wurde – allesamt Ereignisse, die durchaus prognostizierbar waren –, ist der Wunsch größer denn je. Letztendlich versucht jede Regierung und jedes Unternehmen, jede Organisation wie jedes Individuum, zu antizipieren, was morgen und übermorgen kommt. Dabei wird aktuell vorrangig auf künstliche Intelligenz (KI) gesetzt. So forciert etwa Deutschland die datengetriebene Plattform „Preview“, die internationale Konflikte vorhersagen soll. Kostenpunkt bis 2025 (laut dem britischen Guardian): drei Mrd. €.
Mithilfe künstlicher Intelligenz wird zudem versucht, die Entwicklungen auf dem Aktienmarkt vorherzusehen, Unwetter besser voraussagen zu können etc. Doch die Limitierung der Daten, die stets nur die Vergangenheit abbilden, und die Grenzen der KI, die aktuell nur im Rahmen des menschlich Möglichen agiert, lassen diese Ansätze oft mangelhaft erscheinen.
Dass Literatur und Fiktion die Zukunft vielleicht ebenfalls voraussagen können, haben Schriftsteller*innen schon mehrfach bewiesen. Der Autor H. G. Wells schrieb bereits 1914 über Atombomben, Philip K. Dick sagte im Buch „Do Androids Dream of Electric Sheep?“ (der Vorlage für „Blade Runner“) fliegende Autos voraus; und Morgan Robertson schrieb in beängstigender Genauigkeit bereits 1898 über ein riesiges Passagierschiff namens „The Titan“, das mit einem Eisberg kollidierte und unterging. Die „RMS Titanic“ verunglückte 1912.
Wir sind es nicht gewohnt, aus Literatur Schlüsse zu ziehen.
Jürgen Wertheimer, Literaturwissenschaftler und Komparatistiker an der Universität Tübingen und Gründer von „Projekt Cassandra“.
Doch Literatur systematisch zu untersuchen, um Schwingungen in bestimmten Regionen zu erkennen, das war neu. „Wir sind es nicht gewohnt, aus Literatur Schlüsse zu ziehen“, so Wertheimer. Doch für ihn nehmen gute Schriftsteller*innen die Schwingungen ihrer Umwelt auf und beschreiben sie, quasi wie Seismografen einer Gesellschaft. Und so war der Komparatistiker sich immer schon sicher, dass sein Ansatz funktionieren muss. Selbst das Buch, das dem Projekt schließlich seinen Namen gab („Kassandra“ von Christa Wolf) zeigt das: 1983 geschrieben zeichnet es bereits den Untergang der kommunistischen DDR nach.
Also fing Wertheimer an, die Idee vorzustellen. Seine Anlaufstelle waren Ministerien, denn der Forscher war sich sicher, dass diese doch Interesse daran haben müssten, internationale Krisenherde frühzeitig zu erkennen. Doch das deutsche Außenministerium setzt ausschließlich auf datengetriebene Ansätze, das Wirtschaftsministerium kam ebenfalls nie in Tritt.
Schließlich war es das deutsche Verteidigungsministerium, das sich nach zweijährigen Verhandlungen entschied, das Projekt zu unterstützen. Also fing Wertheimer mit drei weiteren Forscher*innen an, Texte zu durchleuchten. Das Team konzentrierte sich auf drei Regionen: den Maghreb-Raum, weitere Teile von Afrika (Algerien, Nigeria) sowie den Balkan. Man erkannte jedoch schnell, dass es viel zu viele Bücher gab und davon die meisten in einer Sprache waren, die niemand sprach. Man machte sich Gedanken über technologische Lösungen – Stichwort „Text Mining“ –, verwarf diese Ideen aber schnell wieder. „Man startet nicht mit einem Meer von Büchern“, so Wertheimer, „sondern mit einer selektiven Lektüre, die man dann Zug um Zug erweitert. Wir untersuchen ja nicht die ganze Welt, das wäre lächerlich.“ Wertheimer erklärt weiter: „Es ist nicht so, dass man alles lesen muss, um eine Region einschätzen zu können. Es ist keine Frage der Quantität, sondern der Qualität. Manchmal reichen 100 Bücher – wenn sie querbeet gestreut und klug ausgewählt sind.“
Schon früh baute Wertheimer relevante Autor*innen aus den Regionen in das Projekt ein. Darunter fanden sich der Nigerianer Wole Soyinka, der kosovarische Schriftsteller Beqë Cufaj oder der Algerier Boualem Sansal. Man traf sich, organisierte Diskussionen und hielt sich über Entwicklungen in den jeweiligen Regionen auf dem Laufenden.
Aus alldem entwickelte Wertheimers Team dann sogenannte „Emotion Maps“, die auf Datenbasis zeigten, wie sich das Maß an gewalttätiger Sprache in gewissen Regionen entwickelte. Ein Vorteil: Eine Landkarte ist auch für Beamt*innen des deutschen Verteidigungsministeriums nachvollziehbar, im Gegensatz zu mehrere Hundert Seiten langen Romanen.
Einzelne Werke wurden dann mit Punkten bewertet, basierend auf Indikatoren wie ihrer thematischen Bandbreite, Zensierungen des Werks oder des/der Autor*in, Preisen, die das Werk oder der/die Autor*in erhalten hatte, oder auch der narrativen Strategie; je höher die Punktezahl, desto „gefährlicher“ das Werk. Die höchste Bewertung (von 25 Punkten) erhielt der Roman „2084“ von Boualem Sansal, in dem eine zukünftige Welt beschrieben wird, die nach einem Heiligen Krieg die individuelle Identität abgeschafft hat und in der Komplettüberwachung herrscht.
Trotz einiger Schwierigkeiten – die Übersetzung in „Emotion Maps“ verlief nicht immer reibungslos – feierte das „Projekt Cassandra“ durchaus Erfolge: In Algerien, das das Team bereits 2017 als relevante Region identifiziert hatte, brachen zwei Jahre später gewalttätige Proteste aus, die letztendlich zum Rücktritt des damaligen Präsidenten Abd al-Aziz Bouteflika führten.
Überhaupt erklärt Wertheimer, dass es nicht so sehr darum gehe, präzise Vorhersagen zu machen: „Es wäre hochgradig lächerlich, wenn wir behaupten, dass zu einem bestimmten Datum ein bestimmtes Ereignis passieren wird. Es geht vielmehr darum, Sedimente zu erkennen – wir sind eine Art kulturelle Erdbebenwarte. Wir erfassen den Untergrund und erkennen, wo Bruchlinien und Gefährdungszonen liegen könnten.“
Seit 1991 lebt Jürgen Wertheimer in der Universitätsstadt Tübingen. Geboren wurde der Deutsche jedoch in München, seine Studentenzeit verbrachte er in den Umbrüchen der 1968er-Revolte. Doch Wertheimer ist kein großer Fan von Menschenmassen und hielt sich deshalb von politischen Aktionen und Demonstrationen fern.
Wertheimer fing also an, zu lesen – und tut es bis heute. Mit dem „Projekt Cassandra“ hatte er endlich einen zusätzlichen Zweck dieser Aktivität gefunden – einen, von dem Wertheimer schon immer wusste, dass er da war. Dass das Projekt trotz Erfolgen im Zuge der Pandemie im Dezember 2020 gestoppt wurde, wurmt den Forscher bis heute sichtlich. Überhaupt lässt er an den Institutionen, mit denen er zu tun hatte, kein gutes Haar: „Ich bemerke in vielen Ämtern und Behörden Deutschlands wie auch der Europäischen Union ein unglaubliches Zögern, ein Zurückschrecken vor Entscheidungen. Das ist per se nichts Neues, aber ich habe es mir nicht in dieser Wucht vorstellen können. Das ist ein beunruhigender Faktor für das nächste Jahrzehnt, in dem es auf klare Entscheidungen und schnelle Handlungen ankommt.“
Denn laut Wertheimer stehen uns zahlreiche Richtungsentscheidungen bevor – insbesondere in Europa. Der Umgang mit Flüchtlingen, die Haltung in außenpolitischen Fragen oder das Wettrennen um Technologieführerschaft sind nur einige davon. Doch die Untätigkeit, so Wertheimer, mit der Europa in diesen Fragen agiere, sei problematisch. Und Wertheimer wäre nicht Wertheimer, wenn er nicht auch Beispiele aus der Literatur parat hätte.
Er nennt das Werk „Biedermann und die Brandstifter“ von Max Frisch, das zeigt, was passiert, wenn Untätigkeit, Trägheit, Eitelkeit und falsche Höflichkeit (in der Figur des Biedermann) auf einen äußeren Feind (in Form der Brandstifter) treffen. Diese Feinde können viele Gesichter haben, einen davon hat der Franzose Michel Houellebecq laut Wertheimer beschrieben: In dem 2015 erschienenen Roman „Unterwerfung“ zeichnet der Autor eine Vision der Übernahme Frankreichs durch den politischen Islam 2022. „Man kann zu Houellebecq stehen, wie man will, aber dieses Buch bringt einen zum Nachdenken“, so Wertheimer.
Trotz aller Ernüchterung ist er aber absolut kein Fatalist. „Europa hat einige Errungenschaften, die durchaus verteidigenswert sind“, so Wertheimer. „Das muss man dann aber eben auch offensiv tun.“
Sollten alle Stricke reißen, denkt er sogar darüber nach, unter die Unternehmer zu gehen: „In unserer durchkapitalisierten Welt fände ich es bedauerlich, unsere Arbeit zum Nulltarif anbieten zu müssen. Unbezahltes wird in der Regel nicht ernst genommen. Diese Erfahrung musste schon Kassandra machen.“ Und abschließend: „Vielleicht findet sich unter Ihren Leser*innen ja ein kluger Kopf, eine Institution mit Weitblick, die Interesse an einem solchen Pilotprojekt hat.“