Ohne Breite keine Spitze

Wenn man wissenschaftliche Exzellenz hervorbringen will, muss man zuallererst für eine gesunde Basis sorgen: Man kann nicht auf Knopfdruck Nobelpreise hervorbringen – man braucht eine breite Wertschätzung für Wissenschaft in der Bevölkerung.

Text: tuw.media-Redaktion

Man kennt das Phänomen aus unterschiedlichsten Lebensbereichen: Nach außen hin zählt nur die Spitze. Die besten zehn Tennisspieler des Planeten etwa sind weltberühmt – der Tennisspieler, der in der Weltrangliste zwischen Platz 300 und 400 herumpendelt, kann zwar ebenfalls unfassbar gut Tennis spielen, aber niemand fragt ihn um ein Autogramm.

In der Wissenschaft ist es ähnlich: Jede Universität hätte am liebsten möglichst viele Nobelpreisträger; Wissenschafts-Stars, die millionenschwere Förderungen einwerben und in den prestigeträchtigsten Fachjournalen der Welt publizieren. Und dieser Drang nach Exzellenz ist wichtig – nur wenn man sich hohe Ziele setzt, kann man besser werden.

Aber können wir dann nicht sehr viel Geld sparen, indem wir einfach nur noch die Weltklasseforschung bezahlen? Wir stellen eine hochkarätige Jury zusammen, die herausfinden soll, wer nobelpreistauglich ist und wer nicht, und dann sorgen wir einfach für eine optimale Förderung der absoluten Top-Exzellenz-Spitzenforschung. Und der Rest hat eben Pech gehabt?

Natürlich kann das nicht funktionieren – genauso wenig, wie es möglich ist, nur zehn hoch bezahlte Topstars Tennis spielen zu lassen, während der Rest der Welt nie einen Tennisschläger in die Hand nimmt. Tennisstars mit großartigen Leistungen gibt es, weil Tennis ein globaler Massensport ist – sonst gäbe es keinen ständigen Nachschub junger Talente, aus denen in manchen Fällen dann ein Star wird. Und umgekehrt: Tennis ist deshalb ein globaler Massen­sport, weil es Tennisstars mit großartigen Leistungen gibt. Sonst kämen potenziell talentierte Leute nämlich gar nicht auf die Idee, diesen Sport überhaupt mal auszuprobieren. Ohne Breite keine Spitze – ohne Spitze keine Breite.

Genau denselben Mechanismus gibt es in der Wissenschaft. Es sind die atemberaubenden Spitzenleistungen, die in der breiten Bevölkerung für akade­mischen Nachwuchs sorgen: Über die Nobel­preise wird stets in allen Zeitungen berichtet; wenn durch jahrelange hart­näckige Grundlagenforschung ein neues Medikament entwickelt wird, ist das ein Grund zum Feiern; wenn ein Weltraumteleskop aus Millionen Kilometern Entfernung neue Bilder aus dem All liefert, dann sind wir begeistert und freuen uns.

Und gleichzeitig sind nur durch weitverbreitete Wissenschaftsbegeisterung wissenschaftliche Spitzenleistungen möglich. Würden nicht ausreichend viele Leute nach dem Blick auf die atemberaubenden Bilder des Weltraumteleskops ihre Freude an der Wissenschaft entdecken und vielleicht ein wissenschaftliches Studium beginnen, dann hätten wir auch keine nobelpreiswürdigen Forschungsergebnisse. Natürlich werden die meisten von ihnen keine Topstars. Aber das macht nichts. Die Wissenschaftsgeschichte zeigt auch immer wieder: Selbst unter Wissenschaftsprofis, die an Universitäten arbeiten, lässt sich nur schwer einschätzen, wer von ihnen wirklich bahnbrechende Leistungen erbringen wird. Andrew Wiles beispielsweise war Anfang der 1980er-Jahre ein mittelmäßig erfolgreicher Mathematiker. Er tingelte von einem Uni-Job zum anderen, seine Publikationsliste war eher bescheiden. Kaum jemand wusste, dass er im Stillen an einem der berühmtesten und weitreichendsten mathematischen Probleme der Welt arbeitete – dem Großen Satz von Fermat. Im Jahr 1984 präsentierte er den Beweis für diesen Satz, der jahrhundertelang von unzähligen Mathematikerinnen und Mathematikern gesucht worden war. Ganz plötzlich war der unscheinbare Andrew Wiles zum Weltstar der Mathematik geworden.

Die Forderung nach Exzellenz in der Wissenschaft ist zweifellos wichtig – aber man kann sich nicht alleine auf Exzellenz beschränken. Man kann auch nicht nur Schokolade essen. Man muss sich damit abfinden, dass man Exzellenz nur bekommt, indem man Forschung fördert, die vielleicht niemals Welt­klassestatus erreichen wird – und indem man Wissenschaft in alle Bereiche der Gesellschaft hineinträgt. Nur dann erreichen wir eine Breitenwirkung, die am Ende ganz automatisch auch zu Spitzenleistungen führt.

Florian Aigner ist Physiker, Autor und Wissenschaftspublizist. An der TU Wien bildet er als Wissenschaftsredakteur die Schnittstelle zwischen Forschung und Wissenschaftsjournalist*innen. 2021 wurde Aigner der Kardinal-Innitzer-Preis verliehen.

Text: Florian Aigner Foto: TU Wien