TU Wien

MOBILITÄT MIT HIRN

Wir Menschen sind doch rationale Wesen! Zumindest sehen wir uns selbst gerne so. Die Wirklichkeit sieht allerdings oft anders aus. Wenn wir ehrlich sind, müssen wir zugeben: Unser Leben ist voll von merkwürdigen Irrationalitäten. Und ganz besonders irrational verhalten wir uns, wenn es um Mobilität und Straßenverkehr geht – das sollten wir ändern.

Text: tuw.media-Redaktion Foto: TU Wien

Der Artikel erschien in der Ausgabe 1–21 „Mobilität“.

Jeder von uns verhält sich ab und zu irrational, das ist keine Schande: Beim Roulette sind wir überzeugt, dass ganz sicher Rot kommen muss, wenn fünfmal hintereinander Schwarz an der Reihe war, und wir wissen, dass wir Zahn­seide verwenden sollen, verschieben das aber auf nächste Woche, und dann auf übernächste – so lange, bis der nächste Besuch bei Zahnärztin oder Zahnarzt unmittelbar bevorsteht.

Über ganz besonders viele Irrationalitäten stolpern wir in einem Bereich, der in unserem Alltag eine ganz zen­trale Rolle spielt: in unserem Mobilitäts­verhalten. Wir halten es für vernünftig, uns selbst zu transportieren, indem wir eine Maschine in Betrieb nehmen, die zwanzigmal so viel wiegt wie wir. Gefühlsmäßig steht für uns auch fest: In einem großen, schweren SUV ist man viel sicherer! Man sitzt hoch oben, kann über die anderen Autos hinwegblicken und hat somit einen deutlich besseren Überblick über das Verkehrsgeschehen!

Das mag durchaus zutreffen – wenn man Angst vor Kollisionen mit Heli­koptern hat. Den Himmel hat man im SUV nämlich tatsächlich recht gut im Blick. Dafür nehmen wir allerdings einen toten Winkel direkt vor der Motor­haube in Kauf, der Kinder oder Rollstühle praktisch unsichtbar macht.

Wer Mobilität nicht rational betrachtet, sondern das bloße Bauchgefühl ­entscheiden lässt, findet in fast jeder Situation Argumente für das Auto: „Ich spare damit doch Zeit!“, heißt es oft. Vergessen wird, dass bei innerstädtischen Fahrten dann oft mehr Zeit bei der Parkplatzsuche verloren geht, als man vorher gewonnen hat. „Aber Autofahren macht mir einfach Spaß!“, sagen viele Leute dann – genau dieselben Leute, die erst eine halbe Stunde zuvor an der Straßenkreuzung vollgepumpt mit Adrenalin anderen Verkehrsteilnehmern Schimpfwörter hinterhergeschrien haben, für die sie den eigenen Kindern sofort das Taschengeld streichen würden.

Florian Aigner
ist Physiker, Autor und Wissenschaftspublizist. An der TU Wien bildet er als Wissenschaftsredakteur die Schnittstelle zwischen Forschung und Wissenschaftsjournalist*innen.

Die vielleicht größte Mobilitäts­irrationalität betrifft allerdings nicht uns als Einzelpersonen, sondern unseren kollektiven Umgang mit Mobilität und öffentlichem Raum: 1959 erschien das Buch „Die autogerechte Stadt“. ­Darin präsentierte der Architekt und Stadtplaner Hans Bernhard Reichow eine Vision, die man damals für modern und zukunftsweisend hielt: eine Stadt, in der sich alle Planungsentscheidungen den Bedürfnissen des Verkehrsflusses unterzuordnen haben. Es folgte eine Ära der Stadtautobahnen und der neu gebauten Shoppingcenter im Grünen, weit weg von den Wohngebieten. Erst in letzter Zeit hat sich der Blick darauf gewandelt.

Das eigentliche Ziel ist nicht, möglichst viele Kilometer in möglichst kurzer Zeit zurückzulegen, sondern die eigenen Bedürfnisse auf möglichst zeitsparende, einfache und nachhaltige Weise zu befriedigen. Und das sind zwei sehr unterschiedliche Dinge.

Der umweltfreundlichste und nervenschonendste Straßenverkehr ist der, der gar nicht erst nötig wird. Natürlich hilft uns die neue Schnellstraße, in kürzerer Zeit zum Shoppingcenter zu gelangen. Aber noch mehr Zeit würden wir sparen, wenn wir gar nicht ins Shoppingcenter fahren müssten, weil es direkt in unserer Gegend ein reiches Angebot an Geschäften gibt. Natürlich ist es praktisch, direkt vor der Arztpraxis einen großen Parkplatz zu haben. Aber noch praktischer wäre es, wenn die Hausärztin zu Fuß erreichbar wäre. Natürlich beklagen sich Pendlerinnen und Pendler völlig zu Recht, dass es viel zu mühsam wäre, mit öffentlichen Verkehrsmitteln zur Arbeit zu fahren. Aber wenn das Privatauto in den letzten Jahrzehnten nicht einen derart unerbittlichen Siegeszug quer durch all unsere Lebensbereiche angetreten hätte, dann hätten sich diese großen Distanzen zwischen Wohngebieten und Arbeitsplätzen wohl gar nicht erst ergeben.

Es ist natürlich richtig, dass wir un­sere heutige, vielerorts für das Auto optimierte Welt nicht von einem Tag auf den anderen auf eine autofreie Alternative umstellen können. Das fordert auch niemand. Aber wir sollten manchmal darüber nachdenken: Wenn wir all unser Wissen über bestehende Infrastruktur, über Traditionen und soziale Konventionen mit einem Fingerschnippen aus unserem Gedächtnis löschen könnten und ganz unvoreingenommen über­legen würden, wie eine wirklich vernünftige Mobilität aussehen könnte – auf welche Ideen kämen wir dann? Und wie schaffen wir es, unsere Lebens­realitäten zumindest ein bisschen mehr in diese Richtung zu schieben?

Niemand von uns ist völlig rational. Aber jeder von uns kann zumindest versuchen, die eigenen persönlichen Irrationalitäten immer wieder ein bisschen infrage zu stellen.

Text: Florian Aigner