Ribordy, Eleana Hegerich, Marina Dragicevic

MASCHINEN, DIE (NICHT) DENKEN

Seit sieben Jahrzehnten arbeiten Forscher*innen daran, Maschinen mit menschenähnlicher Intelligenz auszustatten. Heute ist künstliche Intelligenz eine der vielversprechendsten Technologien unserer Zeit. Trotz zahlreicher Durchbrüche ist die Wissenschaft jedoch noch meilenweit von intelligenten Maschinen entfernt – auch weil Unternehmen erst an der Oberfläche dieser billionenschweren Technologie kratzen.

Text: Olivia Chang Foto: Ribordy, Eleana Hegerich, Marina Dragicevic

Im Juli 1990 ernannte George H. W. Bush das folgende Jahrzehnt zur „Decade of the Brain“. „Das menschliche Gehirn“, sagte der damalige US­-Präsident, „ist ein 1,5 Kilogramm schweres Netz verwobener Nervenzellen, die unsere Aktivitäten kontrollieren. Es ist eines der wunderbarsten – und mysteriösesten – Wunder der Schöpfung.“ Bush wollte eine neue Ära in der Gehirnforschung einläuten, um die Ursache für Krank­heiten herauszufinden, an denen Millionen von Amerikaner*innen jedes Jahr leiden; etwa Autismus, Sprachstörungen oder Alzheimer. Die Neurowissen­schaften sollten ein neues Level erreichen, mehrere Milliarden US-$ flossen in die Forschung.

Doch etwas klappte nicht. Nach der Jahrtausendwende merkten Wissenschaftler*innen, die im Bereich künstliche Intelligenz (KI) forschten, dass das vergangene Jahrzehnt nur wenig Fortschritt gebracht hatte – trotz der neuen Aufmerksamkeit, die der Bereich erhalten hatte. Mit KI wollte die Wissenschaft in gewisser Weise das menschliche Hirn nachbauen. Hervé Bour­lard erinnert sich gut an diese Zeit: Der belgische Forscher arbeitete in den 90er-Jahren an neu­ro­­­nalen Netzen und profitierte von den neuen Finanzmitteln. Bourlard trug auf Konferenzen sogar Anstecker mit dem Slogan „The Decade of the Brain“. „Als ich jünger war, war ich stolz darauf, diese Anstecker zu tragen. Wir dachten, wir verändern die Welt“, erinnert er sich. „Heute bin ich etwas pragmatischer.“

Das Thema KI beschäftigt die Wissen­schaft, seit Alan Turing 1950 einen Test zur Bewertung von maschineller In­telligenz einführte. Weitere Meilen­steine folgten: Mit „Eliza“ erschuf das Massachusetts Institute of Tech­nology (MIT) bereits 1966 einen der ersten Chatbots, der IBM-Com­puter Deep Blue besiegte den Schachweltmeister Garri Kasparov 1997 in sechs Spielen; fünf selbstfahrende Autos legten während der zweiten Darpa Grand Challenge 2005 einen 212 Kilometer langen Kurs zurück. Im letzten Jahrzehnt allein wurden virtuelle Assistenten wie Apples Siri und Amazons Alexa Begleiter im Alltag, außerdem kann heute praktisch jede Sprache – von Taga­log bis Suaheli – automatisch und in Sekunden­schnelle übersetzt werden.

 

Steigende Rechenleistung, das Internet sowie Unmengen digitalisierter Daten för­derten den Aufstieg der Technologie. Man­che Expert*innen glauben jedoch, dass wir nun umdenken müssen: Der aktuelle Ansatz, wobei große Daten­mengen ausgenutzt werden, dürfte demnach nicht ausreichen, um ein neues Kapitel in der KI­-Geschichte aufzuschlagen. Denn das Ziel ist es ja, menschen­ähnliche Intelligenz in Maschinen zu erreichen, und das bleibt vorerst unerreichbar. „Was wir getan haben, war sehr erfolgreich“, sagt ­Bourlard. Die Grenzen des ge­gen­wärtigen Ansatzes werden jedoch immer deutlicher, so der Wissenschaftler: „Wir fahren jeden Tag in eine Mauer.“

Als Direktor des Idiap Research Institute, einer unab­hängigen ­Stif­tung mit Sitz im Schweizer ­Martigny, verfügt Bourlard über ein ­Budget von zwölf Millionen CHF und 140 Mitarbeiter*innen. Dennoch ist das Institut bisher nicht weiter gekommen, als einen Roboter zu bauen, der Raclettes zubereiten kann. „Solan­ge sie nur aus Daten lernen, werden Computer nie auch nur ein Mindestmaß an Intelligenz erreichen“, sagt der Forscher. Oder etwas deut­licher ausgedrückt: „Künstliche Intelligenz ver­fügt über keine Intelligenz.“ Was wir von KI meist sehen und lesen, unter anderem von Robotern, die komplexe Spiele wie Schach oder Go meistern, ist letztendlich nur Ingenieurs­kunst. Diese Maschinen sind konzipiert, um bei einer spezifischen Aufgabe hervorragende Leistungen zu erbringen; sie sind jedoch nicht in der Lage, das breite Spektrum menschlichen Verhaltens zu imitieren. „Schon nach wenigen Monaten erwerben Kinder das, was wir als gesunden Menschen­verstand bezeichnen“, sagt Bourlard. „Mit den Ansätzen, die wir heute modellieren, gibt es jedoch keine Möglichkeit, gesunden Menschen­verstand nachzubilden.“

Trotz Ihres fehlenden Menschenverstands hat KI in jedem Lebensbereich Einzug gehalten. Während Hollywood jedoch fortgeschrittene Androiden mit dem Namen Walter („Alien: ­Covenant“) oder virtuelle Assistentinnen mit Emotionen namens Samantha („Her“) darstellt, bleiben Anwendungen in der realen Welt in gewisser Weise begrenzt. Um die Worte des Informatikers John McCarthy zu wie­derholen, der 1956 den Begriff künstliche Intel­ligenz prägte: „Sobald es funktioniert, nennt es niemand mehr KI.“ Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass eine der wichtigsten Tech­nologien unserer Zeit vor allem zur Verbesserung unserer Newsfeeds und (virtuellen) Einkaufs­körbe beiträgt – und somit Werbe­einnahmen und Produktverkäufe steigert, statt Menschen von mühsamer Arbeit zu befreien.

Und so ist es nicht verwunderlich, dass ein Großteil der Ausgaben für KI von den größten Tech­-Unternehmen getätigt wird. 2014 gab Google rund 500 Millionen US-$ für die Akqui­sition des britischen KI-Start-ups Deepmind aus (die Technologie zur Sprachsynthese wird heute in Google Assistant ver­wendet); Computer Vision wird bereits in den unbemannten Convenience-Stores von Amazon eingesetzt – und der chine­sische E-­Commerce-Riese Alibaba investierte gerade 1,4 Milliarden ­US-$, um einen intelli­genten Lautsprecher namens Tmall Genie zu entwickeln. Laut Datenanbieter CB Insights tätigten Facebook, Google, Amazon, Apple und Microsoft allein im Jahr 2020 13 Akquisitionen im Bereich KI.

SOLANGE SIE NUR AUS DATEN LERNEN, WERDEN COMPUTER NIE AUCH NUR EIN MINDEST­MASS AN INTELLIGENZ ERREICHEN.

Hervé Boulard über die Limitationen von künstlicher Intelligenz.

Außerhalb von Big Tech bleibt das Poten­zial der Technologie hingegen weitgehend liegen. Laut einer Studie des Beratungsunternehmens Mc­Kinsey haben 50 % der Unternehmen KI in mindestens einer Geschäftsfunktion übernom­men. Weniger als ein Viertel der Befragten gab jedoch an, dass mehr als 5 % ihres EBIT auf die Technologie entfallen. „Das meiste, was die Menschen über KI wissen, bezieht sich auf das, was sie als Verbraucher*innen kennen. Doch es gibt einen viel größeren Markt, in dem KI nun zur Anwendung kommt. Und hier könnte sie einen wirklichen Unterschied machen, um bes­seres und nachhaltigeres Wachstum für Unternehmen zu ermöglichen“, sagt Alessandro Curioni, Direktor des IBM Research Lab in Zürich (das 1956 als erster europäischer Forschungs­stand­ort von IBM eröffnet wurde).

Die Bedeutung von KI für Europas Wirtschaft ist eindeutig – und fokussiert sich auf die herstellende Indus­trie. Mit 33 Millionen Arbeitsplätzen ist die Bran­che für 16 % der euro­päischen Wertschöpfung (BIP) verantwortlich. Auch Jürgen Schmidhuber, der oft als „Vater der modernen KI“ bezeichnet wird, sieht einen großen Wandel: „Künstliche Intelligenz wird nicht nur in die virtuelle, sondern auch in die physische Welt vordringen. Die Tech­nologie wird alles verändern, was mit Industrie und Produktion sowie Automatisierung zu tun hat; also all den Dingen, die heute noch Menschen erledigen müssen.“

Schmidhuber ist seit über 40 Jahren im KI­-Spiel dabei: Der aus München stammende Informatiker arbeitet seit Jahrzehnten daran, eine Maschine zu bauen, die intelligenter ist als er selbst. Die Reise des heute 58-Jährigen begann mit 15 Jahren; aktuell ist Schmidhuber Scientific Director am Dalle Molle Institute for Artificial Intelligence Usi-Supsi, das im italienischsprachigen Teil der Schweiz behei­matet ist. Die Produktivitätsgewinne, die sich aus der Nutzung von KI ergeben könnten, haben ihren Ursprung in höherer Leistung, besserer Vorher­sa­ge von Fehlern und Ausfällen sowie einer genaueren Qualitätsprüfung und Kontrolle. Aber warum sehen wir das nicht schon in größerem Maßstab? „In der physikali­schen Welt müssen wir aus wenigen Daten lernen, die durch teure Experimente gewonnen wurden, um komplexe industrielle Prozesse zu steuern“, erklärt Schmidhuber. „Das ist viel schwieriger als das Erlernen von Videospielen – darin ist KI ja bereits ziemlich gut.“

 

2014 gründete Schmidhuber Nnaisense mit. Das Unternehmen soll Geschäftsprozesse mithilfe umfang­reicher neuronaler Netzwerklösungen automatisieren. Ein Anwendungsbeispiel ist der Mainzer Glasmacher Schott, der unter anderem Objektive für Smartphone­kameras produziert. „Die Herstellung von feinem Glas ist ein komplizierter Prozess“, sagt Schmidhuber. Mithilfe von Sensordaten kann KI Erkenntnisse ge­winnen und die optimalen Bedingungen für den Her­stellungsprozess ermitteln, der häufig Temperaturen von mehr als 1.600 Grad Celsius benötigt. Schmidhuber: „Obwohl Menschen seit 100 Jahren an diesem Wissen arbeiten, gibt es immer noch zahlreiche Möglich­keiten, Prozesse mithilfe von KI vorherzusagen, zu modellieren und zu steuern, um sie effizienter zu machen.“ Er räumt ein, dass sich der größte Teil der globalen Industrie noch in der Phase der frühen Einführung befindet. Mehr als die Hälfte der europäischen Unternehmen sorgen sich um die Kosten für den Einsatz der Technologie und die Suche nach den richtigen Mitarbeiter*innen; ganze 40 % der europäischen Unternehmen haben KI hingegen nicht einmal auf ihrem Radar – jetzt oder in der näheren Zukunft.

Die Wissenslücke, die die großflächige Einführung der Techno­logie verhindert, ist für Vanessa Foser ein bekanntes Thema. Die gebürtige Liechtensteinerin ist Mitgründerin und Präsidentin der AI Business School in der Schweiz. Die Schule wurde 2018 gegründet und deckt das gesamte KI-­Spektrum ab: von Bilderkennung über Computer Vision bis hin zu maschinellem Lernen. Bisher haben sich rund 15.000 Student*innen angemeldet – von einfachen Mitarbeiter*innen hin zu Vorstandsmitglie­dern; darunter Firmenkunden wie die Großbank UBS, der Logistiker Swissport oder die Versicherung Bâloise. „Wirklich interes­sant wird es, wenn unsere Kunden er­kennen, dass KI Anwendungsfälle anbietet, die sie in ihrem Unternehmen oder in ihrem täglichen Leben ein­setzen können“, sagt Foser, die 2020 auf der „Under 30“-­Liste von Forbes vertreten war. „Die Anwendung könnte ihnen im Schnitt drei Stunden pro Tag ersparen, die sie derzeit noch für manuelle Aufgaben benötigen.“ Die KI­-Schule hat sich mit dem Global AI Hub zu­sammengeschlossen – einer Plattform, die kostenlose AI-Bildungs­kurse anbietet. Das Ziel: bis 2023 rund 500.000 Menschen in der DACH-­Region zu erreichen. „Als Business School denken wir nicht, dass jede*r ein*e Programmierer*in sein muss“, sagt Foser. „Etwa 10 % eines Unternehmens oder KMUs sollten Programmierer*innen sein – die anderen 90 % müssen die Sprache sprechen, um die Lücke zwischen der IT und dem restlichen Unternehmen zu schließen.“

Welcher Meilenstein steht als nächster an? Curioni ist überzeugt, dass eine der größ­ten Chancen für Unternehmen im Bereich Natural Language Processing (NLP) liegen wird – einem Teilbereich von KI, in dem Maschinen Bedeutung aus der menschlichen Sprache ableiten. Laut dem Datenanbieter Statista könnte der Markt bis 2025 auf 43 Milliarden US-$ wachsen – fast das Vierzehnfache der Größe im Jahr 2017. „Ohne Sprache
gibt es kein Wissen, gibt es keinerlei Aktion – gibt es nichts“, sagt Curioni. Einer der fortschrittlichsten Sprachgeneratoren stammt von Open AI (von Mitgründer Elon Musk): Das Mitte 2020 veröffentlichte ­GPT-3-Modell kann je nach Eingabeaufforderung kohärenten Text erstellen. Derzeit werden von der KI täglich rund 4,5 Milli­arden Wörter produ­ziert. Der IT-Riese Microsoft hat sich bereits eine exklu­sive Lizenz gesichert. Das Beispiel zeigt eine insgesamt viel­­ver­sprechende Vision: Ein Großteil der Daten, die Unternehmen heute produzieren, ist unstrukturiert (E-­Mails, Berichte, Anrufprotokolle) – die Fähigkeit, diese textbasierten Daten­mengen zu sichten und wichtige Punkte zu extrahieren, um sie verständlich zusammen­zufassen, könnte massive Veränderungen nach sich ziehen. „Können Sie sich vorstellen, welche Aus­wirkungen das für Entscheidungsträger*innen hätte? Statt eine Million verschiedener Dinge zu lesen, könnte man die Informationen auf einer einzigen Seite zusammenfassen lassen“, so Curioni.

Künstliche Intelligenz wird nicht nur
in die virtuelle, sondern auch in die
physische Welt vordringen. Die Technologie wird alles verändern, was mit Industrie
und Produktion sowie Automatisierung zu tun hat.

Jürgen Schmidhuber

Doch auch abseits der Sprache bewirkt KI nachhaltige Disruptionen, etwa in Medizin und Biologie. Vor dem Hintergrund der weltweiten Pandemie erhielten die Entdeckung und das Design von Arzneimitteln neue Bedeutung – und große Investitionen. Die Zuflüsse in diesen Bereich beliefen sich laut dem AI Index Report 2021 der Stanford University auf mehr als 13,8 Milliarden US-$.

Ende 2020 gelang es der Alphabet-Tochter Deepmind, mit ihrem KI-Sys­tem ­Alphafold die Herausforderung der Proteinfaltung zu lösen. Im Wesentlichen wurde Deep Learning verwendet, um die Struktur eines Pro­teins genau vorherzusagen. Die Fähigkeit, die Proteine eines Virus sichtbar zu machen, könnte eine wichtige Rolle bei der Entwicklung zukünf­tiger Impfstoffe und Behandlungen spielen. Die Technologie bringt aber auch Fortschritte bei der Dia­gnose von Brustkrebs und Hirntumoren, der Erkennung von Autismus bei kleinen Kindern und der Berechnung der richtigen Insulinmenge für Diabetiker.

In jedem Fall scheint die Zukunft der KI vielversprechend: Laut PwC könnte die Weltwirtschaft dank der Ein­führung von KI bis 2030 um zusätzliche 15,7 Billionen US-$ wachsen. Während wir aber weit mehr Anwendungen als bloß kuratierte Newsfeeds erleben werden, entzieht sich der große Traum, eine Maschine zu erschaffen, die der menschlichen Intelligenz gleich­gestellt ist, bisher selbst jenen, die der Forschung daran ihr Leben gewidmet haben: „Seit ich ein Teenager war, habe ich das Ziel, diesen Moment zu erleben“, sagt Schmidhuber. „Vielleicht habe ich ja noch ein paar Jahrzehnte, um es tatsächlich sehen zu können.“