Ob Amazon, Facebook oder der Google-Mutterkonzern Alphabet – wenn es um künstliche Intelligenz (KI) geht, führt an den Tech-Riesen kein Weg vorbei. Doch die USA stehen mit ihren KI-Weltmarktführern nicht alleine da: Seit Jahren ist China auf Aufholjagd, angeführt von den Technologiekonzernen Alibaba, Baidu und Tencent. Die Vision: bis 2049 die global führende Rolle in Zukunftstechnologien einzunehmen. Und Europa? „Wir sind sehr gut in der KI-Forschung“, sagt Rasmus Rothe. „Und in der Wirtschaft gibt es etablierte Unternehmen mit einem guten Verständnis. Aber im Vergleich zu China und den USA müssen wir stark aufholen. Wir haben nicht die Zeit, zu warten.“ Um dem gegenzusteuern, gründete der Forbes-„Under 30“- Listmaker 2016 zusammen mit dem Seriengründer Adrian Locher – dieser etablierte beispielsweise eines der führenden Schweizer E-Commerce-Unternehmen, Dein Deal – das Berliner KI-Venture-Studio Merantix.
Mit seinen 80 Mitarbeitern treibt das Unternehmen den Aufbau von KI-Start-ups maßgeblich voran – und schlägt so die Brücke zwischen Forschung und Anwendung. „Die Idee war, ein Ökosystem in Europa zu bauen, mit dem der Transfer von Forschung zur Anwendung gelingt. Denn da haben wir in Europa Probleme“, sagt Rothe. Langfristig bietet Merantix seinen ausgegründeten Start-ups Zugang zu Know-how, Technologie, Büros und Kapital. Mittlerweile entstanden über Merantix bereits sechs Start-ups, vier weitere befinden sich in der Pipeline. Dabei setzt das Unternehmen seinen Fokus auf die Branchen Healthcare, Big Data, Business Intelligence und Biotech. Unter den „Töchtern“ von Merantix findet sich etwa Vara: Das Unternehmen automatisiert mithilfe von maschinellem Lernen medizinische Diagnosen durch die Analyse radiologischer Bilder. Somit kann etwa mit sehr hoher Sicherheit Brustkrebs von unverdächtigen Mammogrammen (Mammografie: Röntgenuntersuchung der weiblichen Brust auf Brustkrebs, Anm.) unterschieden werden; Vara wie auch Merantix befinden sich auf der diesjährigen Forbes-Liste „KI 30 DACH 2021“.
Insgesamt generieren die Start-ups einen Umsatz im Millionenbereich – genaue Zahlen nennt Rothe nicht. Anfang 2020 setzte Merantix mit institutionellen Investoren zudem einen Risikokapitalfonds in der Höhe von 25 Millionen € auf. Mit dem Geld sollen in den nächsten vier Jahren zehn weitere KI-Start-ups aufgebaut werden. Weiters etablierte das Unternehmen mit Merantix Labs eine Sparte, die sich auf projektbasierte KI-Lösungen für Unternehmen spezialisiert; darunter der Onlinehändler Zalando.
Mit dem AI Campus inmitten Berlins will Rothe nun noch einen draufsetzen. Als eine Art Knotenpunkt der deutschen bzw. europäischen KI-Szene bietet das eigens errichtete Gebäude auf 5.400 Quadratmetern für bis zu 450 Unternehmen, Forscher und Experten Platz, die an neuen KI-Anwendungen arbeiten. Doch der Campus soll auch als Hub für Mittelständler und Großunternehmen funktionieren. Das Ziel: das Qualitätssiegel „KI made in Europe“ zu etablieren. Das Projekt kostete Merantix einen siebenstelligen Betrag, ist jedoch nicht gewinnorientiert – die anfallenden Kosten sollen über die Mieteinnahmen der ansässigen Unternehmen gedeckt werden.
Neu ist die Idee nicht – auch Bremen AI ist ein Cluster, der den Transfer zwischen Wirtschaft und Wissenschaft vorantreibt; Baden-Württemberg hat sich im Zuge des Projekts Cyber Valley mit Unternehmen wie Amazon oder Porsche verpartnert, um KI-Start-ups zu fördern. Rothe legt den Fokus jedoch auf eine sorgfältige Auswahl der Mieter und ein für die Zusammenarbeit förderliches Raumkonzept. „Die richtigen Unternehmen dabeizuhaben ist essenziell. Wir wollen Firmen, die verstehen, worauf sie sich einlassen, und die sich offen austauschen. Es geht darum, etwas beizusteuern – um Geben und Nehmen –, und nicht darum, auf den AI Campus zu ziehen und dann die Tür zu schließen“, so Rothe. Aktuell sind mehr als zwei Drittel der Flächen vermietet, unter den Mietern findet sich auch Advertima, ein Start-up aus St. Gallen, das dieses Jahr erstmals auf der Liste „KI 30 DACH“ vertreten ist. Zu den Partnern des AI Campus zählen neben der Universität Darmstadt und dem Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz (DFKI) auch SAP, der US-Techkonzern Nvidia und der Schweizer Möbelhersteller Vitra.
Rasmus Rothe
promovierte im Bereich Computer Vision an der ETH Zürich. 2016 gründete er mit Adrian Locher das Venture-Studio Merantix, im April 2021 eröffnete er mit selbigem den AI Campus in Berlin.
Künstliche Intelligenz spielte bereits in Rothes Kindheit eine zentrale Rolle: In der Schule war der gebürtige Bremer in einer Spezialklasse mit Fokus auf Mathematik und Naturwissenschaften untergebracht. „Wir mussten dort einmal im Jahr an Wissenschaftswettbewerben teilnehmen“, erzählt Rothe. „Ich habe das erst ein wenig widerwillig gemacht, dann aber gemerkt, dass es mir großen Spaß macht, intelligente Maschinen zu bauen.“ Mit 14 Jahren fertigte Rothe seinen ersten Staubsaugerroboter an. Es folgte die Teilnahme an der Robocup Junior Weltmeisterschaft, einem Wettbewerb, bei dem Teilnehmer aus der ganzen Welt ihre eigens entwickelten Fußballroboter gegeneinander antreten lassen. „Die erste Teilnahme lief nicht so gut. Ich habe mir dann das Ziel gesetzt, im nächsten Jahr wieder teilzunehmen – dann haben wir die Weltmeisterschaft gewonnen“, schildert Rothe. Nach der Schule studierte er Computerwissenschaften an der ETH Zürich sowie an der Universität in Oxford. Er promovierte mit 26 Jahren an der ETH Zürich im Bereich Computer Vision. Weil Rothe während seiner Promotion bemerkte, dass „in KI superviel Potenzial steckt“, suchte er nach einer Möglichkeit, den größtmöglichen Nutzen zu stiften – er fand sie im Unternehmertum. Einzig in seiner Rolle im KI Bundesverband hat Rothe Berührungspunkte zur Politik, denn der AI Campus stützt sich nicht auf staatliche Finanzierung, sondern soll die Unternehmer des Landes ansprechen, so Rothe: „Der Staat kann ein guter Unterstützer, Multiplikator oder Kunde sein. Man sollte aber nie auf ihn warten, sondern die Dinge selbst in die Hand nehmen. Deshalb haben wir das mit dem AI Campus einfach durchgezogen. Das war zwar mehr Arbeit als gedacht – aber es ist definitiv ein cooles Projekt.“