Katie Yuen

Exzellenz

Wir leben in der Hustle-Ära. „To hustle“ heißt schnell oder energisch arbeiten, sich durchsetzen; drängeln oder schubsen, aggressiv sein, besonders im Geschäftsleben oder bei anderen finanziellen Angelegenheiten. Wer etwas erreichen will – Profit, Berühmtheit –, der muss hart arbeiten. Und während das stimmt, liegt viel Kraft in der Selbstreflexion und gegebenenfalls in der Erkenntnis, eine Pause zu
brauchen, die vor neuen Höchstleistungen kommen muss. Das führt vielleicht nicht zu schnellem, aber zu nachhaltigem Erfolg.

Text: Sophie Schimansky Foto: Katie Yuen

Was ist Exzellenz? Dazu ziehe ich den lateinischen Ursprung des Wortes he­ran, und das, obwohl ich im Gymnasium alles andere als exzellent in Latein war. Das Wort stammt vom lateinischen „excellere“, was so viel heißt wie „herausragen, hervorragen, sich auszeichnen“. Exzellenz lässt sich rein theoretisch in jedem Zusammenhang, in jedem Feld, in jedem Beruf erzielen, aber in bestimmten Bereichen ist Exzellenz besonders prävalent; oft in Bereichen, in denen der Wettbewerb ausgeprägt ist, wie zum Beispiel im Leistungssport. Wieder in anderen Bereichen ist Exzellenz besonders wichtig, zum Beispiel in der Medizin, in anderem Zusammenhang ist Exzellenz besonders sichtbar oder hörbar, in der Musik oder in der Sterneküche etwa.

Um herauszuragen, musste man oder frau stets bereit sein, so einiges zu tun, vor allem mehr als der Mitbewerb: mehr Stunden, weniger Schlaf, weniger Freizeit. Oder? Unternehmen, Sportler*innen und Musiker*innen haben herausgefunden, dass Exzellenz nur dann erstrebenswert ist, wenn sie zu nachhaltig herausragenden Leistungen führt. Nur Körper und Geist im Einklang vollbringen nachhaltig, also langfristig, gute Leistung. Das Bewusstsein dafür wächst dank berühmter Fallbeispiele und Vorbilder: Die 24-jährige Turnweltmeisterin Simone Biles zog sich 2020 von der Bühne der Olympischen Spiele in Tokio aus den Mannschaftswettbewerben und später aus dem Mehrkampf zurück und begründete dies mit Problemen mit ihrer mentalen Gesundheit.

Biles erzählte Reporter*innen, sie habe „die Twisties“. Die „Twisties“ passieren in der Gymnastik, wenn ein*e Turner*in in der Luft die Orientierung verliert. Biles erklärte auf Instagram, wie es sich anfühlt, „wenn Körper und Geist nicht im Einklang sind“ – die Landung hätte zu Verletzungen führen können. Ihr Entschluss, ihren Geist ernst­ zu nehmen und damit ihren Körper zu schützen, wurde rund um den Globus teils kontrovers diskutiert; Fernsehmoderator Piers Morgan nannte den Rückzug „feige und lahm“.

Noch immer dominiert vor allem in den Industrieländern die Leistungsgesellschaft, in der ein solches Ausscheiden als Aufgeben gesehen wird, als Schwäche. Ich dagegen finde es inspirierend und stark, und spirituell bedeutsam. „Vermeidet die Extreme. Gebt euch weder hemmungslosem Genuss noch der Selbstqual hin. Nur der mittlere Weg führt zur Heilung, zur Ruhe, zum ­Überblick, zur Erleuchtung“, sagt Buddha. Und während Simone Biles vielleicht nicht die Erleuchtung anstrebt, dann doch, diesen Sport noch viele Jahre machen zu können. Und dazu muss sie, wie sie weiß, ihren Körper respektieren. Diese Einstellung hat ihren Weg in die Fitnesswelt gefunden, mit dem Leitspruch „Train hard, recover harder“.

Biles erhielt damals Unterstützung von ­anderen Athlet*innen, unter anderem vom Weltklasseschwimmer Michael Phelps. Er galt Anfang dieses Jahrtausends als der viel­seitigste Schwimmer und ist mit 28 olympischen Medaillen, davon 23 Goldmedaillen, der mit Abstand erfolgreichste Olympionike. Phelps sagte damals: „Im Laufe meiner Karriere habe ich viele Hilferufe gehört und wusste nicht so recht, was ich sagen oder tun sollte. Als Simone Biles und Naomi Osaka öffentlich über ihre psychischen Probleme sprachen, war ich sehr inspiriert. Es hat mich wirklich gefreut, denn für jeden, der sich öffnet und über solche Kämpfe spricht, ist das so befreiend. So viele Jahre lang wollten wir alles unter den Teppich kehren. Jetzt ist das Pflaster ab.“

Der langsame Weg zur Exzellenz findet auch Anwendung in der Welt der Akademien und Hochschulen und sogar in der Wirtschaft. 1914 verblüffte die Ford Motor Company alle, indem sie die tägliche Arbeitszeit auf acht Stunden reduzierte und gleichzeitig die Löhne verdoppelte. Das Ergebnis? Höhere Produktivität. Und das lässt sich sogar noch weiter führen: Heute zeigen Studien, dass die meisten Menschen keine acht Stunden konzentriert, geschweige denn exzellent arbeiten können.

Es sei vor allem der Spaß, der nicht verloren gehen dürfe, wenn man Außergewöhnliches erreichen will, sagt der berühmte Physiker Neil deGrasse Tyson. „Wenn jeder den Luxus hätte, ein Leben lang genau das zu tun, was er liebt, würden wir alle als visionär und brillant eingestuft werden… wenn man jeden Tag seines Lebens damit verbringen kann, das zu tun, was man liebt, kann man gar nicht anders, als darin der Beste der Welt zu sein.“