Marcella Ruiz Cruz

EIN BALANCEAKT

ICH FÜHLE MICH FEHL AM PLATZ. Zumindest ein bisschen. Ein Journalist, einer mit Wirtschaftsfokus noch dazu, der sich anmaßt, den Leitartikel in einem Wissenschaftsmagazin zu schreiben. Wobei: Ganz so verkehrt ist das eigentlich gar nicht. Denn den Journalismus verbindet nicht wenig mit der Wissenschaft.

Text: Klaus Fiala Foto: Marcella Ruiz Cruz

Der Artikel erschien in der Ausgabe 1–21 „Mobilität“.

Zu den Gemeinsamkeiten gehören etwa das Stellen von Fragen und das Suchen von Antworten, die Relevanz für eine aufgeklärte Öffentlichkeit, die notwendige Kunst, komplizierte Sachverhalte zu kommunizieren, und die im Idealfall vollständige Freiheit und Unabhängigkeit gegenüber jeglicher Einflussnahme, egal ob politisch oder wirtschaftlich. Und, zu guter Letzt, oft auch der Druck, Geld zu verdienen oder zu bekommen, um diese Unabhängigkeit auch finanzieren zu können.

Doch es gibt auch fundamentale Unterschiede. Einer zeigte sich im Zuge der globalen Coronavirus-Pandemie vielleicht deutlicher denn je: der Umgang mit dem Prinzip der Ausgewogenheit. Ausgewogene Berichterstattung ist ein hohes Gut im Journalismus; sie soll gewährleisten, dass Meinungs- und Perspektivenvielfalt ermöglicht wird, dass einzelne Medien nicht einseitig politischen Parteien oder anderen Organisationen „dienen“, und dass in Artikeln alle Seiten zu Wort kommen, sodass sich die Leser*innen selbst ein Bild machen können. In der Wissenschaft ist das aber heikel. In einem Interview mit dem Schweizer Magazin „Republik“ sagte der deutsche Virologe Christian Drosten, er habe das Phänomen der False Balance vor Corona völlig unterschätzt. Darunter versteht man das ungerechtfertigte gleichberechtigte Darstellen gegensätzlicher Meinungen. Wenn beispielsweise 98 Forscher „A“ sagen und nur zwei Forscher „B“, dann ist die Mehrheitsmeinung eindeutig „A“ – wenn nun Zeitungen aus jeder Gruppe eine Person zu Wort kommen lassen, entsteht in der Öffentlichkeit das Bild, die beiden Meinungen würden von je 50 % der Forscher*innen vertreten.

Medien funktionieren über Debatten und Kontroversen. Wenn alle das Gleiche sagen, haben Journalist*innen wenig zu berichten. Oder warum glauben Sie, wird in Fernsehsendungen gerne ein sogenanntes „Krokodil“ eingeladen, also ein Gast, der ganz sicher eine andere Meinung vertritt als der Rest der Diskutant*innen? Das Problem: Wir müssen uns auf gewisse Ansichten einigen, sonst funktionieren wir als Gesellschaft nicht. Die Erde ist keine Scheibe und Blitze werden nicht von Zeus gemacht. Das sind Fakten, da gibt es keine zwei Meinungen. Corona hat gezeigt, dass sich Verschwörungstheorien über das Internet schneller verbreiten, als uns lieb ist – da müssen Medien nicht auch noch Feuer ins Öl gießen. False Balance ist also ein (großes) Problem.

Gleichzeitig müssen wir aber aufpassen, dass wir kritisches Hinterfragen nicht im Keim ersticken. Die Labortheorie, wonach Corona nicht von Tieren auf den Menschen übertragen wurde, sondern in einem chinesischen Labor entstanden ist, war lange Zeit als Verschwörungstheorie verpönt. Nun untersucht sogar die Weltgesundheitsorganisation diese Frage. Das Gleichgewicht zu finden ist nicht einfach. Journalist*innen müssen sich bewusst sein, dass über Wissenschaft anders berichtet werden muss. Da gibt es Dinge, die ausgewogen dargestellt werden müssen; und dann gibt es Dinge, die hundertfach bewiesen sind – da gibt es keine zwei Meinungen. Wir werden uns in diesem Magazin tunlichst bemühen, die richtige Balance zu finden. Leicht wird das nicht – doch wir denken, es lohnt sich. Vor allem für Sie.