David Visnijc

DIE Sonne nachbauen

Im Idealfall kann Kernfusion eine nachhaltige, ressourcenarme und grüne Form der Energiegewinnung sein. Bislang warten wir jedoch noch auf den Tag, an dem wir mit ihrer Hilfe Strom ins Netz speisen können. Doch nach den neuesten, positiven Forschungsergebnissen aus dem kleineren Kernfusionsreaktor JET und einem fast fertigen Experimental Reactor ITER gibt es eigentlich nur noch wenig, was uns und dem „Break-even-Point“ der Kernfusion im Weg steht, oder?

Text: Lela Thun Foto: David Visnijc

Der globale Stromverbrauch steigt. Während Österreich zu Beginn der 2000er-Jahre noch um die 50.000 Gigawattstunden Strom verbrauchte, sind es 20 Jahre später rund 65.000. Zwar liegt Österreich – wie die meisten europäischen Länder – noch weit hinter den Spitzenreitern USA und China, was den Stromverbrauch angeht. Die beiden Länder verbrauchten 2019 6.800 bzw. 3.900 Terawattstunden (eine Terawattstunde entspricht tausend Gigawattstunden), dennoch wird der Verbrauch auch hierzulande weiter steigen. Die Zunahme von Elektromobilität und die Digitalisierung der Gesellschaft brauchen nun mal Energie.

Um den steigenden Energiebedarf zu stillen, braucht es Lösungen. Und die sollen abseits der fossilen Brennstoffe stattfinden. Das ist nicht nur wegen der ambitionierten Klimaziele ratsam – Österreich will etwa bis 2040 CO2-neutral sein –, sondern auch wegen der geopolitischen Abhängigkeiten, die der Krieg Russlands in der Ukraine verdeutlicht hat. Nach dem Einmarsch der russischen Truppen kündigte US-Präsident Joe Biden an, kein Öl und Gas mehr aus Russland beziehen zu wollen. Die gleiche Frage stellt man sich gerade in der Europäischen Union. Weil aber ein mögliches Embargo zu weiter steigenden Energiepreisen führen könnte, fordern viele nun, die lokale Energiewirtschaft zu fördern, um unabhängig von Ländern wie Russland zu werden.

Ein möglicher Ansatz ist der gänzliche Umstieg auf erneuerbare Energien, etwa Wasserkraft oder Solarzellen. Das Problem: Nachhaltige Energieträger sind zwar gut für die Umwelt, können aber in Sachen Energieproduktion noch nicht mit anderen Energiequellen mithalten. Laut einer Rechnung von Swiss Energy Scope braucht es etwa 700 Windkraftwerke, um ein einziges Kernkraftwerk zu ersetzen. Kraftwerke, die mit Kernspaltung Energie erzeugen, stoßen wiederum keine schädlichen Treibhausgase aus, produzieren aber eine Menge radioaktiven Müll. Zudem zeigten Katastrophen im ukrainischen Tschernobyl in den 80er-Jahren oder im japanischen Fukushima 2011, wie verheerend Unfälle in Kernkraftwerken sind.

Es gibt viele negative Stimmen, die sagen, dass die Kernfusion ein Milliardengrab sei und nie
funktionieren wird. Ich glaube das eher nicht

Professorin Elisabeth Wolfrum vom Max-Planck-Institut für Plasmaphysik.

Dennoch hat die EU vor kurzem beschlossen, Kernkraft als „grün“ und somit umweltfreundlich einzustufen, was vor allem in Österreich, wo die „Kernkraft? Nein, danke!“-Bewegung und die Ereignisse rund um das Atomkraftwerk Zwentendorf noch tief in den Köpfen der Bevölkerung festsitzen, für große Empörung gesorgt hat. Doch es gibt noch eine weitere Möglichkeit, Energie zu erzeugen, die in der Debatte nur selten erwähnt wird: Kernfusion. „Wir werden nicht gerne mit den Kernspaltungs-Leuten in einen Topf geworfen. Kernfusion und Kernspaltung haben eigentlich nicht wirklich viel miteinander zu tun“, sagt Friedrich Aumayr, Professor am Institut für Angewandte Physik an der TU Wien und „Head of Research“ des Österreichischen Kernfusions-Projektes Fusion@ÖAW. Doch was genau ist Kernfusion eigentlich?

Elisabeth Wolfrum vom Max-Planck-Institut für Plasmaphysik erklärt das so: „Kernfusion ist das Verschmelzen zweier leichter Kerne zu einem schwereren Kern. Aufgrund des Massendefekts (Massenunterschied zwischen der tatsächlichen Masse eines Atomkerns und der stets größeren Summe der Massen der in ihm enthaltenen Nukleonen, Anm.) wird dabei Energie frei. Diese Energie wird bei dem Prozess, den wir bevorzugen, nämlich der Verschmelzung von Deuterium und Tritium zu einem Helium, hauptsächlich in Form eines Neutrons freigesetzt. Das Neutron hat eine neutrale Ladung und wird daher nicht von dem Magnetfeld-Käfig beeinflusst, in dem wir das Plasma (eine Art Teilchengemisch, in dem sich das Deuterium und Tritium befindet, Anm.) eingeschlossen haben. Somit kann die Energie des Neutrons in Wärme umgewandelt werden.“ Unsere Sonne hat ein ähnliches Prinzip der Energiegewinnung: In ihrem Zentrum verschmelzen jede Sekunde 600 Millionen Tonnen Wasserstoff zu 596 Millionen Tonnen Helium. Dieses Prinzip wollen Forscher*innen schon seit Jahren auf der Erde imitieren. In der Theorie hört sich das alles nicht so kompliziert an, doch wie in den meisten Fällen sieht die Praxis ganz anders aus: Seit 2007 wird am International Thermonuclear Experimental Reactor (ITER) in Südfrankreich bereits gebaut, 15 Milliarden US-$ sowie 15 Jahre Forschungs- und Entwicklungsarbeit wurden investiert. Fertig ist der Reaktor aber bis heute noch nicht.

Nur in Modellform wurde der Reaktor bereits fertiggestellt. Auf dem Schreibtisch von Professor Aumayr steht nämlich eine 3D-gedruckte Nachbildung des ITER. Fast schon süß sieht das Donut-förmige Gestell mit seinen vielen Farben aus, bis man den kleinen Modell-Menschen daneben sieht. Er wirkt wie eine Ameise neben einem Elefanten. „Der ITER ist groß, doch der Reaktor, der danach gebaut werden soll, DEMO (kurz für DEMOnstration Power Plant, Anm.) wird noch größer werden.“ Der ITER ist ein weltweites Projekt, bei dem alle 27 EU-Staaten, das Vereinigte Königreich, die Schweiz, die USA, China, Südkorea, Japan, Russland und Indien zusammenarbeiten. Das Ziel: erstmals einen Nettoenergiegewinn zu erzielen. Denn bisher konnte man Atome zwar fusionieren, die Energie, die dadurch gewonnen wurde, war aber geringer als die Energie, die hineingesteckt wurde. „Wir erhoffen uns vom ITER, diesen Break-even-Point nicht nur zu erreichen, sondern bis 2035 auf einen Q-Wert von zehn zu kommen“, so Aumayr weiter. Ein Q-Wert von zehn würde bedeuten, dass im Reaktor zehnmal mehr Energie gewonnen wird als hineinfließt.

Damit das alles überhaupt funktioniert, müsste das Plasma auf eine Temperatur von 150 Millionen Grad Celsius gebracht werden, was um das Zehnfache heißer als im Zentrum der Sonne wäre, dort hat es nämlich „nur“ 15 Millionen Grad Celsius. Neben der Temperatur muss auch die Teilchendichte und die Einschlusszeit des Plasmas, sprich die Zeitspanne, in der das Plasma magnetisch eingeschlossen ist, groß genug sein, damit sich die Atome auch tatsächlich treffen können. Aber nicht nur der physikalische und technische Aspekt bereitet jenen, die am ITER arbeiten, Schwierigkeiten, wie Professorin Wolfrum erklärt: „Allein das Vakuum-Gefäß, in dem sich das Plasma bewegen soll, ist aus Teilen aus verschiedenen Staaten zusammengestellt. Da macht der eine Staat den Sektor und der andere Staat den daneben. Das ist natürlich etwas ineffizient.“ Fakt ist, dass sich Verzögerungen und Schwierigkeiten beim Bau des ITERs nicht besonders gut auf das öffentliche Bild der Kernfusion ausgewirkt haben.

„Es gibt viele negative Stimmen, die sagen, dass die Kernfusion ein Milliardengrab sei und nie funktionieren wird. Ich glaube das eher nicht“, so Wolfrum. „Selbst, wenn es am Ende nicht funktionieren würde, haben wir durch den Prozess trotzdem viele Erkenntnisse sammeln können.“ Wolfrum und Aumayr sind aber zuversichtlich – trotz der Schwierigkeiten. „Die Kosten des ITER wurden zu Beginn auf 15 Milliarden € geschätzt, mittlerweile sind es wahrscheinlich 20 Milliarden €“, so Aumayr. Das sei mehr als beispielsweise der Teilchenbeschleuniger in Cern, der vier bis fünf Milliarden US-$ gekostet hat. „Wenn man bedenkt, dass Deutschland vor Kurzem beschlossen hat, 100 Milliarden € in seine militärische Aufrüstung zu investieren, wirken die 15 Milliarden € für den ITER, um einiges geringer.“ Auf die Frage, ob wir mit mehr Geld schon einen funktionstüchtigen ITER hätten, sagt Aumayr: „Wir hätten schon in den 90er-Jahren einen ITER mit Nettoenergiegewinn bauen können, dieser wäre aber um einiges größer und auch um einiges teurer geworden. Der jetzige ITER ist vergleichsweise klein, weil er billig sein musste.“ Damit teilt die Kernfusion ihr Schicksal mit vielen anderen vielversprechenden Technologien. Genau wie etwa beim Quantencomputer, wo bereits seit einigen Jahren auf den Durchbruch gewartet wird. Ein genaues Datum für den Break-even-Point will Aumayr nicht nennen: „Bereits vor 30 Jahren hieß es, dass in 30 Jahren Fusionsstrom fließen würde. Heute muss ich Ihnen sagen, dass das wiederum erst in 30 Jahren der Fall sein wird.“ Das erste Plasma könnte laut Wolfrum aber schon etwas früher durch den Donut-förmigen Ring des Reaktors fließen: „ITER ist immer ein bisschen vorsichtig mit dem Verkünden von Daten, aber das erste Plasma soll höchstwahrscheinlich 2027 oder 2028 fließen.“

„Wir hätten schon in den 90er-Jahren einen ITER mit Nettoenergiegewinn bauen können, dieser wäre aber um einiges größer und auch um einiges teurer geworden. Der jetzige ITER ist vergleichsweise klein, weil er billig sein musste“, so Professor Aumayr.

Doch der Aufwand könnte sich letztendlich lohnen.
Wolfrum: „Kernfusion ist, wenn sie funktioniert, eine fantastische Methode, um Energie zu produzieren. Weil die Ressourcen relativ gleichmäßig auf der Erde verteilt sind, weshalb es keine Verteilungskämpfe wie bei Erdöl oder Erdgas geben wird.“ Der Grund dafür liegt an den beiden Kernfusionskomponenten Deuterium und Tritium. Deuterium findet sich in Meerwasser, Tritium lässt sich relativ einfach aus Lithium erbrüten. „Wenn man aus einem Liter Meerwasser den winzigen Anteil an schwerem Wasserstoff (Deuterium) von nur 0,015 % herausfiltert, so kann man mit dieser kleinen Menge genauso viel Energie gewinnen wie bei der Verbrennung von einem Fass Erdöl“, so Aumayr. In der Praxis konnte dies mit dem JET-Reaktor, dem „kleinen Bruder“ des ITER vor Kurzem bewiesen werden: Der Reaktor konnte Anfang Februar das Deuterium-Tritium-Plasma für fünf Sekunden einschließen und hätte mit seiner Energiespeisung 10.000 Haushalte mit Strom versorgen können. Leider wurde beim JET-Experiment noch immer mehr Energie für die Fusion hineingesteckt, als gewonnen wurde, jedoch kam man dem Break-even-Point schon ein großes Stück näher.

Wenn der Nettoenergiegewinn erreicht ist, stellt sich die nächste Frage: Der zukünftige Einfluss der Kernfusion auf den Energiehaushalt der Menschen. Die einen meinen, dass die Kernfusion irgendwann den Markt dominieren wird, die anderen sind da eher skeptisch. Wolfrum erklärt diesbezüglich, dass die erneuerbaren Energien viel machen könnten – aber eben nicht alles. Sie sieht das Einsatzgebiet der Kernfusion vor allem in der Lücke, die entsteht, wenn sich die Menschheit von Kohle und Erdöl abwendet. Aumayr sieht die Kernfusion als langfristige, nachhaltige Lösung: „Die Fusion wird nicht alle anderen Energieformen ersetzen, das kann sie bis 2100 auch gar nicht schaffen. Schätzungsweise wird man bis dahin, je nachdem wie teuer oder billig andere Energieformen werden, einen Energieanteil von vielleicht 20 bis 25 % mit Kernfusion decken können.“

Egal ob 30, 40 oder 100 Jahre, es wird wohl noch ein Weilchen dauern, bis wir Kernfusionsstrom aus unseren Steckdosen ziehen können. „Ich hoffe sehr, dass ich die Inbetriebnahme von ITER von einem Platz im Kontrollraum miterleben kann“, lacht Aumayr.

Friedrich Aumayr
studierte Physik an der Johannes Kepler Universität Linz und an der TU Wien, wo er 1985 „sub auspiciis Praesidentis rei publicae“ promovierte. 2015 erfolgte seine Berufung zum Universitätsprofessor für Ionen- und Plasmaphysik. Seit 2013 ist er auch Direktor des österreichischen Fusionsforschungsprogramms bei der ÖAW.

Elisabeth Wolfrum
studierte Technische Physik an der TU Wien, bevor sie als Postdoc im Forschungszentrum Jülich arbeitete. Seit 2000 ist Wolfrum wissenschaftliche Mitarbeiterin des Max-Planck-Instituts für Plasmaphysik, seit 2003 ist sie an der TU Wien habilitiert und im Jahr 2020 erhielt sie den Titel Universitätsprofessorin.

Elisabeth Wolfrum vom Max-Planck-Institut für Plasmaphysik erklärt: „Kernfusion ist das Verschmelzen zweier leichter Kerne zu einem schwereren Kern.“

Text: Lela Thun
Fotos: ITER, David Visnijc

Dieser Artikel erschien in unserer Ausgabe 1–22 zum Thema „Klima“.