Jan Siemen

Die große Stille

Wie bescheiden ihre Existenz ist, wurde der Menschheit im Jahr 1990 bewusst, als Voyager 1 ein Bild der Erde aus sechs Milliarden Kilometern Entfernung aufnahm, bekannt als „Pale Blue Dot“. War das Bild ein Hinweis auf die unbestreitbare theoretische Möglichkeit von Leben jenseits unseres Planeten oder eher eine Erinnerung an die Einsamkeit der Menschen im All? Ist das Leben auf der Erde selten und kostbar – oder hat man bisher einfach keine andere Lebensform entdecken können?

Text: Ekin Deniz Dere Foto: Jan Siemen

Große Zahlen sind schwer zu begreifen – zum Beispiel die Anzahl der Sterne in der Milchstraße. Obwohl manche die Zahl auf 400 Milliarden schätzen, geht man laut ESA davon aus, dass es etwa 100 Milliarden sind. Die genaue Zahl kennt natürlich niemand, denn niemand würde versuchen, sie zu zählen; sie wird in Größen wie der Anzahl und Leuchtkraft der Galaxien gemessen. Bei all den leuchtenden Sternen, von denen einige das Potenzial für intelligentes Leben bieten, könnte man sich fragen, wozu hypothetische außerirdische Zivilisationen fähig sein könnten und wie weit die menschliche Zivilisation im Vergleich zu anderen entwickelt sein könnte.

Auf der Byurakan-Konferenz 1964 hielt der sowjetische Astronom Nikolai Kardaschow einen Vortrag, in dem er die Kardaschow-Skala vorstellte, eine Methode zur Messung des technologischen Fortschritts einer Zivilisation anhand der Energiemenge, die sie verbrauchen kann. Dieses hypothetische Maß betrachtet den Energieverbrauch auf einer kosmischen Skala und unterscheidet zwischen drei Arten von Zivilisationen: Eine Zivilisation vom Typ I ist nicht nur in der Lage, auf die gesamte auf einem bestimmten Planeten verfügbare Energie zuzugreifen, sondern auch, sie zu speichern; eine Zivilisation vom Typ II kann die Energie eines Sterns – im Falle der Menschheit zum Beispiel der Sonne – direkt verbrauchen. Die mächtigsten Zivilisationen schließlich, Typ III, können die gesamte von ihrer Galaxie abgestrahlte Energie absorbieren. Die entsprechenden Energieniveaus sind 1016 W (Watt), 1026 W und 1036 W. Die Menschen sind noch nicht in der Lage, die gesamte Energie des Planeten Erde zu nutzen, was bedeutet, dass wir noch nicht einmal eine Zivilisation vom Typ I sind. Wissenschaftler*innen wie Michio Kaku (City College of New York) zufolge haben die Bewohner*innen des blassblauen Punkts noch einen weiten Weg vor sich, um auf die Liste zu kommen: 100 bis 200 Jahre, alles in allem.

Es besteht eine hohe statistische Wahrscheinlichkeit, dass sich intelligentes Leben, das sich auf unserem Planeten entwickelt hat, auch rund um einige der besagten 400 Milliarden Sterne entwickelt hat, und einige dieser Lebensformen sollten sich so weit entwickelt haben, dass sie unsere Funksignale empfangen oder uns ihre eigenen senden können. Rein theoretisch müsste es also dort draußen Zivilisationen vom Typ I bis zum Typ III geben – doch seit wir am 16. November 1974 mit dem Arecibo-Teleskop in Puerto Rico begannen, Signale ins All zu senden, haben wir noch keine einzige außerirdische Signatur gefunden: Es herrscht völlige Stille – die große Stille, wie das Buch des serbischen Astronomen Milan M. Ćirković aus dem Jahr 2018 betitelt ist.

Wo sind denn nun alle? Diese Frage stellte der italienische Physiker Enrico Fermi im Jahr 1950 – und mindestens seitdem versucht der Mensch, zu lauschen. Um nach außerirdischem Leben zu suchen, nahm das SETI-Institut (SETI = Search for Extraterrestrial Intelligence) vor 37 Jahren, am 1. Februar 1985, seine Arbeit auf. Außerdem wurde im Jänner 2016 das 100-Millionen-US-$-Projekt „Breakthrough Listen“ als Teil von Yuri Milners „Breakthrough Initiatives“-Programm gestartet, das auf zehn Jahre angelegt ist. In dem von Milner unterzeichneten offenen Brief heißt es: „Es gibt wahrscheinlich Milliarden von erdähnlichen Welten allein in unserer Galaxie, und mit Instrumenten, die jetzt oder bald zur Verfügung stehen, haben wir die Chance, herauszufinden, ob einer dieser Planeten auch ein Pale Blue Dot ist – Heimat von Wasser, Leben, sogar Geist.“ Das wissenschaftliche Programm für das Projekt ist am Berkeley SETI Research Center angesiedelt. Es wird behauptet, dass die verwendeten Instrumente „50-mal empfindlicher als bestehende Teleskope für die Suche nach Intelligenz“ sind. Die Ergebnisse? Keine, trotz der Hoffnungen zahlreicher Wissenschaftler*innen, die einen offenen Brief zur Ankündigung des Projekts mitunterzeichnet haben. Stephen Hawking, einer der Mitunterzeichner, kommentierte: „In einem unendlichen Universum muss es anderes Leben geben. Es gibt keine größere Frage – und es ist an der Zeit, uns zu verpflichten, die Antwort darauf zu finden.“ Doch paradoxerweise haben wir trotz unserer Bemühungen und unserer sich ständig weiterentwickelnden Technologie immer noch nichts von irgendjemandem gehört – das ist das Fermi-Paradoxon.

Marianne Röchling ist Personal- und Recruitingleiterin des TU Wien Space Teams, einer studentisch geführten Gruppe mit Schwerpunkt Luft- und Raumfahrttechnik, deren Motto „To boldly go where no student has gone before“ aus der Science-Fiction-Kultserie „Star Trek“ stammt. Ihr Fokus liegt auf der Entwicklung von experimentellen Raketen, Raketenantrieben und Mini­satelliten, ausschließlich für zivile Zwecke (mehr Informationen über das TU Space Team auf Seite 60). Als Studentin der Technischen Physik interessiert sich Röchling für die „großen Fragen“, allen voran: Sind wir allein? „Enrico Fermi schloss aus dem Mangel an Beweisen für außerirdisches Leben, dass wir allein sein müssen – aber die Wahrscheinlichkeit, dass wir allein sind, ist tatsächlich sehr gering. Das war für ihn verwirrend und er bezeichnete es als Paradoxon“, erklärt sie. „Aber es gibt sicher viele mögliche Lösungen dafür.“

„Wir sind also nur ein winziger Moment in diesem ganzen großen Universum.“

 

Marianne Röchling, Personal- und Recruitingleiterin TU Wien Space Team

Die erste Lösung ist, dass wir vielleicht allein in unserem Sonnensystem und in unserer Zeit sind. „Wenn wir uns die gesamte Zeitspanne anschauen, wie lange das Universum schon existiert und wie lange es noch existieren wird, dann ist die Geschichte der Menschen, auch unseres Planeten, eigentlich recht kurz“, so Röchling. „Wir sind also nur ein winziger Moment in diesem ganzen großen Universum.“ Wenn der Mensch an einem bestimmten Punkt in Raum und Zeit ist und eine Form von intelligentem Leben an einem anderen bestimmten Punkt in Raum und Zeit lebt, dann ist die Chance, dass diese beiden Lebensformen einander entdecken, sehr klein. „Es könnte also sein, dass sie Millionen von Jahren vor uns gelebt haben, oder sie werden Millionen von Jahren nach uns kommen, oder sie sind einfach so weit weg, dass es für uns keine Chance gibt, sie jemals zu sehen oder zu finden“, erklärt Röchling. Um auf die Kardaschow-Skala zurückzukommen: Als Zivilisation des Typs 0 auf dieser Skala hat die Menschheit noch nicht viele Exoplaneten gefunden (planetarische Himmelskörper außerhalb des vorherrschenden Gravitationseinflusses der Sonne, aber innerhalb des Gravitationseinflusses eines anderen Sterns oder Braunen Zwergs) – relativ gesehen. Von den Milliarden Exoplaneten in unserer Galaxie wurden bisher nur etwa 5.000 entdeckt. Röchling: „Selbst wenn wir jeden Stern in unserer Galaxie und jeden Planeten finden, könnten wir immer noch etwas übersehen, weil wir im Moment nicht die Technologie haben, um so genau hinzuschauen.“

Vielleicht suchen wir aber auch nach den falschen Signalen, weil wir nach Anzeichen für unsere Definition von Leben suchen – ein sehr menschenzentrierter Ansatz. Aber außerirdisches Leben muss nicht unbedingt so aussehen wie das unsere. „Vielleicht haben sie ganz andere Bedürfnisse, eine ganz andere DNA-Basis als wir“, so Röchling.

Ein weiteres Argument ist, dass es (wenn Albert Einstein recht hat und nichts schneller als das Licht sein kann) für eine außerirdische Intelligenz vielleicht keinen Sinn macht, zum „Pale Blue Dot“ zu kommen, da dies zu viele Ressourcen beanspruchen würde. Oder, unter Umgehung von Einstein: Selbst wenn wir annehmen, dass es intelligentes außerirdisches Leben gibt und sie schneller als das Licht reisen können, warum sollten sie sich die Mühe machen, mit den Menschen zu kommunizieren? Röchling: „Vielleicht sind sie einfach nicht an unserem winzigen Leben interessiert. Wenn wir im Wald spazieren gehen und Ameisen sehen, gehen wir auch weiter und versuchen nicht, mit ihnen zu reden.“ Und weiter: „Oder vielleicht haben sie eine Art Gesetz, dass sie sich nicht mit Zivilisationen vermischen dürfen, die nicht auf der gleichen technologischen Ebene sind wie sie“ – wie in Star Trek.

Es gibt auch Theorien, die zur Vorsicht mahnen, wie die Theorie des dunklen Waldes. „Wenn man allein im dunklen Wald ist, würde man sich nicht zu erkennen geben. Das könnte ein Grund dafür sein, dass gerade Außerirdische, nicht in den Weltraum schreien, sondern leiser sind und versuchen, sich zu tarnen. Denn wenn man so weit reist, ist es wahrscheinlicher, dass man dort auf Militär trifft als auf wissenschaftliche und diplomatische Teams, weil Kommunikation sehr lange, vielleicht zu lange dauert. Man würde seine möglichen Feinde lieber vernichten, bevor man weiß, dass sie Feinde sind, als erst zu versuchen, mit ihnen zu kommunizieren. Man versucht also entweder, sich zu verstecken, oder man versucht, mögliche Feinde zu vernichten“, erklärt Röchling.