LFI RWTH, Illustration: Kristian Jones

DEUS IN MACHINA: WENN WELTEN VERSCHMELZEN

Im Interview spricht Heribert Nacken, Rektoratsbeauftragter für Blended Learning und den Exploratory Teaching Space an der RWTH Aachen, über Avatare und die Möglichkeiten, die sich ihm durch die Digitalisierung in der Lehre bieten. Was hat es mit dem Exploratory Teaching Space auf sich?

Text: tuw.media-Redaktion Foto: LFI RWTH, Illustration: Kristian Jones

Wie steht es um die Lehre an der RWTH Aachen?

[Heribert Nacken]: Da muss ich ein wenig ausholen: Die RWTH hatte beim ersten Anlauf der Exzellenzinitiative zur Förderung von Wissenschaft und Forschung an deutschen Hochschulen keinen Erfolg. Mit einem transparenteren und kommu­nikativeren Ansatz klappte es, und es stellte sich die Frage: „Wunderbar, dass wir exzellent in der Wissenschaft sind – doch müssen wir dies nicht auch in der Lehre sein?“ Kurzum: Was können wir tun und durch welche Methoden lässt sich die Lehre verbessern? Heute sehen wir uns bei der Digitalisierung sehr gut aufgestellt. Hier hilft uns die „Ermöglichungs­kultur“. An unserer Universität wechseln wir ständig zwischen preu­ßischen und rheinischen Perspektiven: Preußisch ist das zu erreichende Ziel, welches das Rektorat vorgeben darf, rheinisch kommt dann die Kultur der etwa 550 Professorinnen und Professoren dazu, die die Lehr- und Lernkultur definieren. Wir haben eine Kultur, bei der Forschung und Lehre anerkannt werden. Die Forschung ist immer noch die erste Währung, aber die Lehre hat deutlich an Stellen­wert gewonnen. Heute ist es so, dass Sie Ärger bekommen, wenn Sie in der Lehre schlecht sind, das war früher nicht so.

Wie kamen Sie auf die Idee, sich um Avatare in der Lehre zu kümmern?

[H. N.]: Sie kennen doch sicher Stuttgart 21 (Verkehrs- und Städtebauprojekt zur Neuordnung des Eisenbahn­knotens Stuttgart, Anm.) – warum ist dieses Projekt in der Öffentlichkeit so schlecht angekommen? Sicherlich nicht, weil die Ingenieure schlecht gerechnet haben oder es Mängel bei der Konstruktion gab. Man schaffte es einfach nicht, das Projekt so zu kommunizieren, dass Otto Normalverbraucher versteht, worum es geht und wo die konkreten Vorteile liegen. Heute nutzen wir an der Hochschule das avatarbasierte Lernen. Hier geht es darum, angehenden Ingenieuren Kommunika­tionskompetenz beizubringen. Dazu bekommt eine Minigruppe von drei Studierenden den Auftrag, eine Präsentation zu er­stellen. Beispiel: Was muss der Bürger wissen, um sich vor Starkregen zu schützen? Die Präsentation dauert später nur fünf Minuten. Hintergrund: Jeder bekommt dazu eine VR-Brille aufgesetzt und findet sich in der virtuellen Realität wieder, denn dort findet das Bürgergespräch statt. Der Vortragende steht dazu vorne auf dem Podium, im Raum sind 40 bis 50 Ava­tare; diese sind Non-player Characters, also NPCs, die tun, was ich ihnen sage.

Die grenze zwischen virtual reality und augmented reality wird verschwinden.

Heribert Nacken, Rektoratsbeauftragter für Blended Learning an der RWTH Aachen.

Was geschieht dann?

[H. N.]: In dem Moment, in dem der Studierende vorne damit startet, das Projekt vorzustellen, wird sein Rede­fluss durch Zwischen­rufe wie „Blödsinn!“, „Schwachsinn, das geht doch nicht!“ oder „Viel zu teuer!“ massiv gestört. Alles außer physischem Druck ist erlaubt. Resultat: Der Mensch wird völlig aus dem Konzept gebracht. Ich verfüge auch über die Option, dass sich die anderen Avatare noch aktiver einbringen. Dies gelingt mir per digitalem Schieberegler für die NPCs. Eine Interaktion von -5 bis +5 ist möglich – bei -1 starten die Rufe und bei -5 schmeißen die Bürger mit Tomaten und Flaschen nach dem Vortragenden. Wie bewahrt dieser nun die Contenance? So lässt sich Kommunikations­kompetenz erlernen.

Wann hatten Sie die Idee zu diesem Ansatz?

[H. N.]: Die Idee stammt nicht von mir. In Würzburg gibt es sehr gute Leute im Bereich Virtual Reality, was sich bereits 2018 im Projekt „Breaking Bad Behaviors“ zeigte. In diesem Szenario sind Sie ein Lehrer und haben Störenfriede im Schulunterricht.

Wann startete das Projekt?

[H. N.]: Bei uns startete das Projekt 2019; in diesem Semester haben wir avatarbasiertes Lehren und Lernen in den Regelbetrieb eingebunden.

Wie sah die Umsetzung aus?

[H. N.]: Ich bin ein großer Fan von Open-Source-Software und Open Educational Resources, also Dingen, die man anderen kostenlos zur Verfügung stellt. Jede Software, die wir erstellen, ist Open Source. Jeder bekommt den Quellcode und kann ihn weiterentwickeln. Der größte Fehler ist, dass man versucht, alles eins zu eins so zu realisieren, wie man es aus der realen Welt kennt. Im Team haben wir einen Unity-Coder, den Programmierer, einen Spieleentwickler und einen 3D-Modeler. Ab 2022 wird die Software auch vom Deutschen Akademischen Austauschdienst genutzt und bundesweit zur Verfügung gestellt.

„Die Welten werden verschmelzen“, sagt Heribert Nacken über die Zukunft in der (digitalisierten) Lehre an Universitäten.

Wie steht es um die Rückmeldungen?

[H. N.]: Die sind überwältigend. Alle sagen mir, dass sie niemals gedacht hätten, wie realistisch Virtual Reality sein kann.

Was wäre denn in diesem Metier sonst noch denkbar?

[H. N.]: In einem anderen Szenario, in der Baustatik, lassen sich Stäbe mit unterschiedlichen Profilen erstellen. Diese setzen die Nutzer in einer großen virtuellen Halle zusammen. In dieser Halle liegen alle Stäbe umher und man kann sie mit Verbindern zu einem großen Bauwerk zusammensetzen. Der Avatar kann sie haptisch anfassen, das Gewicht spielt keine Rolle. Normalerweise erlernen Studierende das nur in zwei Dimensionen am PC. Sicherlich ist das ein Stück weit auch Spielerei, aber Lernen soll ja Freude bereiten.

Angenommen, wir würden dieses Gespräch in ein paar Jahren noch einmal führen – was wäre bis dahin vorstellbar?

[H. N.]: In drei Jahren sind wir wahrscheinlich so weit, dass es keinen Unterschied mehr zwischen VR und AR geben wird. Die Grenze zwischen Augmented und Virtual Reality verschwindet. In VR-Brillen sind dann Kameras integriert – Sie setzen sich die Brille auf und finden sich in der virtuellen Welt wieder. Doch auch in dieser möchte man seinen PC nutzen und sich Notizen machen. Nur wie? Eine der Kameras öffnet einen bestimmten Bereich im Sichtfeld. Wenn ich mir diesen Bildschirm­ausschnitt ansehe, erkenne ich die echte Tastatur und kann dort schreiben. Denkbar ist auch, dass künstliche Intelligenz in diese Welt einzieht, wenn die Rollenspiele dann gescriptet sind, und das Erlebte fließt in die zukünftige Verbesserung der Reaktionen; oder es werden individuelle Avatare angeboten. Heute arbeiten Versandhäuser mit VR-­Firmen zusammen. Sie stellen sich dazu in eine Kamerabox und werden von 128 Kameras fotografiert. Diese Informationen werden dann auf ein dreidimensionales Rig gezogen und dann hat man Ihr Profil en détail vorliegen. Vorteil: Wir haben nicht mehr die Situation, dass Sie sich eine Hose kaufen, die nicht passt und die Sie zurücksenden, was ökonomisch und ökologisch der helle Wahnsinn ist. Sie gehen mit Ihrem „virtuellen Ich“ aus Nullen und Einsen ein­kaufen und die nächste Hose sitzt garantiert. Ich bin sicher: Die Welten werden verschmelzen.