Sebastian Mittermeier

Der Kopf eintscheidet, ob du weiterfährst

Das Race Across America ist das härteste Radrennen der Welt. Es zieht sich über rund 5.000 Kilometer von der Westküste bis zur Ostküste der USA. Die Sportler*innen schlafen kaum und sitzen mehr als eine Woche lang Tag und Nacht auf dem Rad. Der Mann, der das Rennen sechsmal – und damit so oft wie niemand sonst – gewonnen hat, heißt Christoph Strasser, und er ist Österreicher.

Text: Sophie Schimansky Foto: Sebastian Mittermeier

Christoph Strasser kämpft sich durch die Wüste in Borrego Springs, 140 Kilometer entfernt von San Diego im US-Bundesstaat Kalifornien. Die Hitze sei besonders tagsüber eine Herausforderung, sodass es sich anfühle, „als ob man das erste Mal auf dem Radl sitzt“; aber das sei nun mal das Race Across America und es ginge jedem so. „Die Frage ist, wer damit am besten umgeht“, erklärt Strasser 2019 einem Kamerateam, das ihn begleitet – er scheint damit genau richtig umzugehen, denn rund eine Woche später gewinnt er das Rennen mit einer Zeit von acht Tagen, sechs Stunden und 51 Minuten, zum sechsten Mal. Damit hält er die alleinige Bestmarke; niemand zuvor konnte das Rennen sechsmal gewinnen. Außerdem gelang ihm der dritte Sieg in Folge. Sein Mindset dabei? „Ich stecke mir immer eher kleinere Ziele, bleibe aber dafür viele, viele Jahre dran“, so Strasser.

Der heute 40-Jährige begann im Alter von 18 mit dem Radsport. 2002 nahm er an seinem ersten 24-Stunden-Rennen teil. In den darauffolgenden Jahren gewann er mehrere 24-Stunden-Rennen und wurde mit 25 Jahren der jüngste Ultra-Radmarathon-Weltmeister. Dabei sei er „ein ganz normaler Jugendlicher“ gewesen, habe gerne Fußball gespielt und sei Mountainbike gefahren. Das wohl bekannteste Radsportereignis, die Tour de France, habe ihn aber nie „so richtig gepackt“. Stattdessen habe er eines Tages das Race Across America im Fernsehen gesehen; es war in Österreich sehr bekannt. „Und da war damals der Österreicher Wolfgang Fasching dabei, der ist in der Nacht und am Tag und durch die Wüste gefahren und über die Rocky Mountains. Da habe ich mir gedacht: ‚Das ist ja absolut geil, das ist ein Wahnsinn, der durchquert so den ganzen Kontinent!‘ Das war ein Abenteuer, das Rennen hat mich total fasziniert. Damals wusste ich: Wenn ich einmal groß bin, möchte ich das auch mal probieren.“ Er las Faschings Bücher, schaute sich mehrere Vorträge an und hat ihn so kennengelernt – „das war schon sehr faszinierend für mich, zu sehen, dass er kein Übermensch, sondern ein ganz normaler, freundlicher, offener

Mensch ist wie jeder andere; und hilfsbereit.“ Fasching habe ihm auch Mut und sogar ein Kompliment gemacht. „Er sagte: ‚Du hast jetzt schon im jungen Alter wirklich gute Leistungen auf den Langstrecken gebracht.‘ Wenn natürlich so jemand so etwas zu dir sagt, gibt dir das Motivation und Zuversicht und bewirkt etwas im Kopf.“

Der Kopf mache ein Drittel aus, wenn es darum gehe, Höchstleistungen zu erbringen, sagt Strasser. Die weiteren Komponenten zum Erfolg seien das Team und natürlich der Körper. Strasser zitiert seinen Trainer: „Warum du überhaupt teilnimmst und ob du weiterfährst, das ist eine Frage des Kopfes. Aber wie schnell du fährst, das ist eine körperliche Frage.“

Beim Race Across America muss er selbst sich diese Frage mindestens einmal stellen. Bei der ersten Teilnahme, 2009, musste er das Rennen aus gesundheitlichen Gründen nach 2.400 Kilometern auf Platz vier liegend aufgeben. Doch schon das nächste Mal, 2011, siegte er als dritter Österreicher nach Franz Spilauer und Wolfgang Fasching – Strasser war der bis dahin jüngste Sieger des RAAM.

Seitdem gibt es jedes Rennen wieder Tiefpunkte, vor allem durch den Schlafentzug. Die erste Nacht sei immer besonders brutal, sagt Strasser: „Der Hintern tut weh, der Puls ist auf 180, die Leistung ist völlig im Keller, weil die Temperatur so hoch ist, und es ist einem schlecht“ – denn die Flüssignahrung funktioniert oft am Anfang nicht so gut, bis der Verdauungstrakt seinen Rhythmus findet. „Es sind unglaublich hohe Temperaturen, und du denkst: ‚Verdammte Scheiße, wie soll ich das jetzt acht Tage lang durchhalten, wenn es nach einem halben Tag schon so elendiglich dahingeht?‘ Das ist ein linearer Verfall: Jede Stunde wird schwieriger, die Müdigkeit und die Erschöpfung nehmen stetig zu.“


Er berichtet, nach einer Woche sei man völlig an der Grenze. Man habe oft das Gefühl, zum vierten Mal den gleichen Berg und eigentlich im Kreis zu fahren. „Ich verstehe gar nicht mehr, worin der Sinn eines Radrennens besteht. Warum macht es Sinn, ins Ziel zu fahren?“ Früher war Strasser Fahrradkurier, mit Rucksack unterwegs, um Aufträge auszuführen. „Ich hab gerade keinen Rucksack und ich habe keinen Auftrag. Warum soll ich also jetzt aufs Rad steigen?“ Aus diesen mentalen Tiefs heraus kommt er mit seinem Team, mit dem er immer in Kontakt steht. Die erzählen ihm Witze oder Geschichten und spielen Musik. Und am Ende ist Strasser sich immer bewusst, dass sie unentgeltlich und freiwillig mit dabei sind – und dass Sponsoren pro Rennen 50.000 € beisteuern. „Alleine wegen dieses Einsatzes fährt man dann weiter.“ Der erste Sponsor war Franz Spilauer, der 1988 als erster Österreicher das Rennen gewonnen hatte. „Damals habe ich tatsächlich für 400€ Müsliriegel und Getränke bestellen dürfen“, erinnert sich Strasser.

Je fitter man körperlich sei, desto einfacher sei es für den Kopf. „Der Kopf tritt keine 245 Watt.“ Nur: Sich körperlich fit zu trainieren, das könnten so einige; das Mentale sei der entscheidende Punkt. Es gehe darum, nicht nervös zu sein, keine Versagensängste zu haben, nicht an den kleinen Problemen, die natürlich auftreten, zu verzweifeln, sagt Strasser. „Die Basis ist die mentale Stärke; dass man im richtigen Moment sein Potenzial voll ausschöpft. Das ist meine Stärke. Die anderen können vielleicht 275 Watt treten, aber nicht im richtigen Moment. Im Training geht das vielleicht, aber im Wettkampf nicht.“ Das sei ein mentales Problem.

Seine wichtigste mentale Qualität sei die Geduld. Da zitiert Strasser „einen der Computertypen, ich weiß nicht mehr, wer es war, Steve Jobs oder Bill Gates“. Es war Bill Gates, der sagte: „Die meisten Menschen überschätzen, was sie in einem Jahr erreichen können, und unterschätzen, was sie in zehn Jahren erreichen können.“

Strasser bleibt dran – und erklärt, wie wichtig das sei, wenn ein*e Sportler*in schon auf einem sehr hohen Niveau sei, so wie er. Von Laufanfänger*in zum Marathon in vier Stunden zu trainieren, das gehe sehr schnell. „Wenn man aber das absolut Beste aus dem Körper herausholen und wirklich ein ganz hohes Level an Fitness erreichen, den Marathon schneller laufen und die Zeit um nur eine halbe Stunde verringern will, dauert das dann halt ein Jahrzehnt oder so – es braucht Geduld.“ Die Grundvoraussetzung dafür ist aber natürlich, dass Strasser recht früh gefunden hat, „was mir wirklich Spaß macht und was meine Leidenschaft ist“. Das gehe vielen Kolleg*innen verloren. Der Druck führt zu Depressionen, im Radsport vor allem zu Essstörungen.

Laut einer Erhebung des American College of Sports Medicine leidet mehr als ein Drittel, 35 %, der Spitzensportler*innen unter Essstörungen, Burn-out, Depressionen und/oder Angstzuständen. Das beginnt schon im jungen Alter und am Anfang der Karriere. Etwa 30% der Sportstudentinnen und 25% der Sportstudenten geben an, unter Angstzuständen zu leiden, doch nur 10% aller Collegesportler*innen mit bekannten psychischen Problemen suchen einen Psychiater auf. Strasser kann das nachvollziehen: „Burn-out passiert bei uns, wenn wir übertrainieren und zu wenige Pausen machen. Ich glaube, die Gefahr ist das Gesamtpaket aus Beruf und Familie, Freizeit plus Sport. Sport ist für die meisten Menschen zum Ausgleich da und nicht eine zusätzliche Zwangsverpflichtung, wo man ganz strikt einem Ziel untergeordnet ist.“ Strasser macht Pausen. Wir sprechen am ersten Tag der neuen Trainingssaison, davor hat er das Fahrrad einen Monat stehen gelassen. „Ich kann mir das oft sehr gut einteilen, aber ich merke schon, dass man seine Grenzen nicht überschreiten darf. Sonst ist man immer schlecht gelaunt, schläft zu wenig und isst ungesund. Da kann es kompliziert und gefährlich werden.“ Strasser ist aber auch die Abwechslung wichtig. Er radelt nicht nur, er packt auch Pakete für seinen Onlineshop, in dem er Fanartikel und Radzubehör verkauft. Und weil er erkannt hat, dass das Mindset eines Extremsportlersauch für andere Menschen und Unternehmen interessant sein kann, hält er Vorträge und hat den Podcast „Sitzfleisch“. Rennen seien eine Teamleistung, und das wiederum lässt sich hervorragend auf Teams in Unternehmen übertragen. „Wichtig ist, dass die Leute sich wohlfühlen, danach kommen erst die guten Leistungen. Setzt man andere oder sich selbst unter Druck, dann ist man vielleicht kurze Zeit besser. Aber das wird sicher nicht nachhaltig sein.“

Strasser sagt, es müsse Spaß machen, der Prozess müsse wichtiger als das Ziel sein. Das überrascht, denn er setzt sich ja ständig neue Ziele; so hat er etwa als erster Mensch 1.000 Kilometer in 24 Stunden bezwungen. Er denkt immer über neue Herausforderungen nach: „Ich könnte ja auch einmal durch ganz Europa fahren, eine Weltumrundung machen oder die Alpen überqueren oder umrunden. Es gibt ganz viele Optionen. Es muss immer wieder was Neues sein – und ganz viele Rennen, die vielleicht nicht so berühmt sind wie das Race Across America.“ Er sei mehr Sportler als Abenteurer. Seinen Körper immer wieder zu neuen Höchstleistungen anzuspornen sei seine Leidenschaft. Aber ihm mache das Radeln Spaß, sprich: der Prozess. Natürlich sammle man gerade beim Race Across America „Wahnsinnseindrücke. Aber eigentlich hat mich dann schon am meisten fasziniert, was körperlich alles möglich ist.“

Wieso aber geht er immer wieder so an die eigenen Grenzen? Strasser sagt, man rede immer nur über das Unangenehme, aber das Erlebnis mit dem Team sei einfach einmalig; die Hochs und Tiefs zu erleben und es gemeinsam zu schaffen. „Das ist gewaltig. Dann ist es trotzdem zwischendurch immer wieder lustig, und mein Team hat immer wieder lustige Einlagen, die mich zum Lachen bringen.“ Und es sei auch immer wieder der Konkurrenzkampf mit anderen guten Teilnehmer*innen, der jedes Mal aufs Neue spannend sei. „Man redet sehr oft über die negativen Dinge, über die Schmerzen, über die Müdigkeit, über die Hitze; darüber, wie brutal das Ganze ist. Ist es natürlich schon – aber es dauert im Endeffekt nur ein paar Tage.