Das Zigarettengeld

Geld ist aus der modernen Gesellschaft nicht mehr wegzudenken. Es erleichtert und beeinflusst unser tägliches Leben. Doch was passiert in Gesellschaften, in denen unsere herkömmlichen Münzen und Scheine keinen Wert haben?

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„Der Krieg ist aus”, titelte die Aachener Zeitung am 8. Mai 1945. Doch damit waren noch lange nicht alle Probleme gelöst: Die Städte in Deutschland und Österreich waren zerbombt, es mangelte an nahezu allem – und die Reichsmark hatte keinen Wert mehr. Um ihre Kriegsmaschinerie zu finanzieren, hatten die Nationalsozialisten so viel Geld drucken lassen und in Umlauf gebracht, dass die Geldmenge von 5,7 Mrd. Reichsmark 1933 auf 73 Mrd. zu Kriegsende gestiegen war. Um aber den Eindruck einer Inflation in der Bevölkerung zu umgehen, wurden umfassende Lohn- und Preisstopps sowie Rationierungen eingeführt. „Schon Ende 1941 wurde die Diskrepanz zwischen den privaten Einkommen einerseits und den Verbrauchsmöglichkeiten so groß, dass sich der Schleichhandel [...] zu einem regelrechten Schwarzmarkt auszuwachsen begann, die Geringschätzung des Geldes zunahm und die sogenannte Kaufsucht um sich griff”, schreibt Christoph Maria Merki im „Vierteljahresheft für die Zeitgeschichte” (1/1998).

Fiatgeld – Geld, das keinen inneren Wert hat – dient in der Wirtschaft als Tausch- oder Zahlungsmittel, als Wertspeicher und als Recheneinheit. Damit es diese Funktionen erfüllen kann, muss niedrige Inflation herrschen. Wie der Wirtschaftsprofessor Peter Bofinger in „Grundzüge der Volkswirtschaftslehre – Eine Einführung in die Wissenschaft von Märkten” erklärt: „Geld wird nur dann als Tauschmittel akzeptiert, wenn sein Wert einigermaßen stabil ist. Ist das nicht mehr der Fall, fällt die Wirtschaft in den Zustand des Naturaltauschs zurück.” Bei zu hoher Inflation, wie sie in den 1940er-Jahren herrschte, dient das Geld nicht mehr als Wertspeicher, weshalb die Menschen es so schnell wie möglich ausgeben und stattdessen Sachwerte erwerben. Auch die Funktion der Recheneinheit geht verloren, wenn sich die Preise ständig ändern. Schließlich wird die Währung so unbeliebt, dass man fürchten muss, dass das eigene Geld von Handelspartnern nicht mehr angenommen wird – das Vertrauen in die Währung ist damit verloren.

Dieses Phänomen ist besonders in Krisensituationen oft zu beobachten: Als 1991 die Sowjetunion Pleite ging und zusammenbrach, war die nationale Währung, der Rubel, praktisch wertlos. In solchen Situationen bleiben drei Möglichkeiten: Man kann auf andere, stabilere Währungen (sogenannte Devisen) zurückgreifen oder direkt mit anderen tauschen, ohne Geld zu verwenden. Manchmal etabliert sich auch eine neue, eigene Parallelwährung.

Von den Menschen in der ehemaligen Sowjetunion wurden vor allem die ersten beiden Möglichkeiten genutzt. Der direkte Tausch hat jedoch den Nachteil, dass eine doppelte Übereinstimmung der Bedürfnisse herrschen muss. Bofinger formuliert das so:„Beispielsweise müsste ein hungriger Schneider nach einem frierenden Bäcker suchen, der gerade einen neuen Mantel benötigt.” Deshalb wurde der US-$ (die als am stabilsten betrachtete Währung) jahrelang als Parallelwährung verwendet, bis es gelang, mit einer Währungsreform eine stabile Währung zu etablieren.

Auch in Venezuela kam es 2019 zu so einer Krisensituation: Die Inflation war so hoch, dass die Zentralbank nicht mehr genug Bargeld zur Verfügung stellen konnte. Die Bevölkerung wich deshalb auf Onlinebanking aus, oder sie bezahlte gleich in US-$ oder der Kryptowährung Dash.

Geld wird nur dann als Tauschmittel akzeptiert, wenn sein Wert einigermaßen stabil ist.

Peter Bofinger, Wirtschaftsprofessor

Im Zweiten Weltkrieg dagegen wurde die dritte Möglichkeit genutzt: eine eigene Parallelwährung entstand, und zwar aus Zigaretten, da diese relativ lange in ausreichender Menge verfügbar waren. Außerdem brachte die Zigarette laut Merki ein paar entscheidende Vorteile mit, was sie als Währung attraktiv machte: „Sie war handlich, leicht zu transportieren, praktisch verpackt, ziemlich haltbar, schwer zu fälschen, in Gewicht und Größe international genormt.” So entwickelte die Zigarette sich zur Werteinheit und zumindest auf den Schwarzmärkten auch zum Zahlungsmittel – Preise für Lebensmittel und Kleidung wurden in Zigaretteneinheiten angegeben und verhandelt. Als Tabak ab 1942 doch rationiert werden musste, wurden Zigarettenmarken auch an Nichtraucher vergeben, was den Anreiz zu tauschen für diese Personen noch weiter erhöhte.

Auch in Gefängnissen stellen Zigaretten seit langem eine beliebte Währung dar. Zuerst machte diese Beobachtung der Wirtschaftswissenschaftler Richard Radford. Der Brite kämpfte im Zweiten Weltkrieg und verbrachte die Jahre 1942 bis 1945 in Kriegsgefangenenlagern. Danach veröffentlichte er den Aufsatz „The Economic Organisation of a P.O.W. [prisoner of war] Camp”, in dem er von dem erstaunlich komplexen Wirtschaftssystem berichtete, das sich im Lager etabliert hatte – mit der Zigarette als Währung. Er beschreibt, wie die Gefangenen mit all ihren Gütern – Lebensmittel aus den Paketen des Roten Kreuz, Kleidung und Toilettenartikel aus privaten Zusendungen – Handel trieben. „Meist wurden Lebensmittel gegen Zigaretten oder andere Lebensmittel getauscht, doch Zigaretten stiegen von gewöhnlichen Waren zur Währung auf”, schreibt er. „Jeder, Nichtraucher eingeschlossen,” war gewillt, im Tausch gegen Zigaretten zu verkaufen, um diese später für ein anderes Tauschgeschäft zu verwenden. Die Angebote und Gesuche wurden dabei auf Schwarzen Brettern in den Unterkünften notiert, die Preise in Zigaretten ausgedrückt. Neben Gütern wurden teilweise auch Dienstleistungen im Tausch gegen Zigaretten angeboten, ein Mann eröffnete sogar einen Kaffeestand, an dem man heißen Kaffee und Tee erwerben konnte.

Besonders fasziniert zeigte sich Radford davon, wie spontan dieser Handel entstanden war und dass fast alle Individuen daran teilnahmen: „Jeder bekommt ungefähr gleich viel vom Notwendigsten; durch den Handel wird individuellen Präferenzen Ausdruck verliehen und der Komfort erhöht.” Die Zigaretten dienten im Lager wie auch außerhalb als sogenanntes Warengeld. Dieses ist der Menschheit schon seit vielen tausend Jahren bekannt. Als häufigstes Tauschmittel diente Vieh, weshalb das lateinische Wort für Geld ,pecunia’ vom Wort ,pecus’ (Vieh) abstammt. In Europa verwendete man außerdem wertvolle Metalle, Pfeilspitzen und Salz, während sich in Asien und Afrika das sogenannte Muschelgeld durchsetzte, das aus den Gehäusen von Kaurischnecken hergestellt wurde. Es wird vermutet, dass das Muschelgeld aus Geschenken entsprang, denen nach und nach ein Wert zugeordnet wurde. Eine Form des Muschelgeldes wird auch heute noch verwendet, vom Stamm der Tolai in Papua-Neuguinea. Das Tabu, so der Name der Währung, ist tief in der Kultur des Volkes verwurzelt und trägt maßgeblich zu traditionellen Zeremonien wie Hochzeiten oder Begräbnissen bei. Die Wirtschaftsethnologin Sigrun Preissing schreibt dazu in der „Zeitschrift für Sozialökonomie” (April 2009): „Der traditionelle Austausch der Tolai mit Tabu ist auch heute schwer von Sozialem, Kultur, Religion und Politik zu trennen.” In jedem Ritual seien Tabu involviert; wenn die Muscheln den Besitzer wechseln, wird gleichsam eine Beziehung zwischen Käufer und Verkäufer aufgebaut.

Obwohl wie im restlichen Land die nationale Währung Kina gültig ist, wird für gewisse Transaktionen weiterhin das traditionelle Tabu verwendet und bildet damit eine regionale Komplementärwährung. Seit den 1970er-Jahren kann man Tabu offiziell in Kina wechseln lassen, seit 1994 gibt es sogar eine eigene Bank für das Muschelgeld.Eine andere Form der alternativen Währung wurde 1932 aus der Not geboren: das Schwundgeld von Wörgl. Es wurde 1932 vom Wörgler Bürgermeister Michael Unterguggenberger ins Leben gerufen und wurde unter der Bezeichnung „Das Wunder von Wörgl” weltweit bekannt. Während in der großen Krise der 1930er-Jahre auch in Wörgl Deflation und Arbeitslosigkeit herrschten und die Verschuldung hoch war, begann die Gemeinde unter Bürgermeister Unterguggenberger ein Ausgabenprogramm für Bauarbeiten. Eine Skisprungschanze und eine neue Brücke wurden unter anderem zu dieser Zeit errichtet – bezahlt wurden die Arbeiter mit sogenannten Arbeitswertbestätigungen im Wert von einem, fünf oder zehn Schilling, die zu Beginn in vier Läden in Wörgl gültig waren. Der Trick war, dass die Geldscheine jeden Monat mit einer Wertmarke beklebt werden mussten, die jeweils ein Prozent des Werts kostete. So wurden die Bürger*innen dazu ermutigt, das Geld noch vor Monatsende auszugeben, anstatt es zu sparen.

Unterguggenberger wollte damit der Deflation entgegenwirken. Bei einer Deflation wird das Geld immer mehr wert, was in einen Teufelskreis führt, da die Menschen so viel wie möglich sparen wollen und dadurch immer weniger Geld im Umlauf ist. Die Regierungen in Wien und Berlin wollten mit strengen Sparprogrammen gegen die Deflation ankämpfen: Sie kürzten Löhne und bauten Personal ab. Für Unterguggenberger ergab das keinen Sinn. Er schreibt: „Ich schränke mich ein und gehe barfuß (hilft das dem Schuster?). Ich schränke mich ein und reise nicht (hilft das der Bundesbahn?). Ich schränke mich ein und esse keine Butter (hilft das dem Bauern?).”

Stattdessen startete er sein Experiment, denn er war der Meinung, dass die Wirtschaft wieder in Schwung gebracht werden müsste. Nachdem die Maßnahme einstimmig vom Gemeinderat beschlossen worden war, zeigte sich schon bald erster Erfolg: Die Gemeindemitarbeiter*innen gaben ihre Scheine in den Läden aus, anstatt sie zu sparen, was mehr Geschäfte ermutigte, mitzumachen und die Arbeitswertbestätigungen als Geld zu akzeptieren. Die Umsätze stiegen, worauf wieder mehr Personal eingestellt wurde – die Arbeitslosigkeit in Wörgl sank um sieben Prozent, während sie im restlichen Land weiter anstieg. Das Experiment lief über ein Jahr lang, zahlreiche Gemeinden wollten sich dem Projekt anschließen. Die Nationalbank jedoch sah ihr Monopol, Geld zu drucken, gefährdet. Im Oktober 1933 musste das Schwundgeld nach einem Beschluss des Verwaltungsgerichtshofs schließlich eingezogen werden. Das Wörgler Schwundgeld diente aber als Vorbild für moderne Regionalwährungen, die die lokale Wirtschaft stärken sollen und von denen es heute weltweit mehrere hundert gibt. Am weitesten verbreitet ist der Chiemgauer in Oberbayern.

Deflationäre und inflationäre Schwankungen waren auch durch die Zigarettenwährung nicht aufzuhalten. Während die Reichsmark unter den Nationalsozialisten laut Bofinger aufgrund „der exzessiven Notenbankfinanzierung des Staates [...] fast zerstört wurde” sind Zigaretten ein Konsumgut, das ohne Nachschub ständig weniger werden würde – es besteht also die Gefahr einer Deflation. Radford konnte dazu einige interessante Beobachtungen machen: „Wenn die Lieferungen [des Roten Kreuz von 50 oder 25 Zigaretten pro Mann pro Woche] ins Stocken kamen, wurden die Lagerbestände knapp, die Preise fielen und der Handel ging zurück.” Auf der anderen Seite gab es vier Mal im Jahr große Lieferungen der Pakete aus der Heimat. „Mehrere 100.000 Zigaretten konnten in 14 Tagen eintreffen. Die Preise schnellten in die Höhe und begannen dann zu fallen, zuerst langsam, dann, als die Bestände knapp wurden, immer schneller, bis zur nächsten großen Lieferung.”

In Deutschland wurde die Zigarettenwährung mit der Zeit immer beliebter, wie Merki schreibt: „Schon Mitte 1943 kostete eine gewöhnliche Vier-Pfennig-Zigarette auf dem Schwarzmarkt in Berlin 60 Pfennig. [...] Im April 1945 schließlich belief sich der Preis auf sechs bis acht Reichsmark.” Für zehn Zigaretten wiederum erhielt man 1,5 kg Brot oder 100 bis 150 Gramm Fleisch. Nach Kriegsende wurde das Lager, in dem Radford gefangen gehalten wurde, befreit und der dortige Handel brach ein. Radford machte bei dieser Gelegenheit eine letzte ökonomische Beobachtung: „Die Hypothese, dass wirtschaftliche Organisation und Aktivitäten überflüssig sind, sobald unendlich viele Ressourcen zur Verfügung stehen, wurde bestätigt, da jedes Bedürfnis ohne Anstrengung befriedigt werden konnte.” Zeitgleich entdeckten die Soldaten im besetzten Nachkriegsdeutschland, welche Kaufkraft ihre Zigaretten hatten – besonders weil die englischen und amerikanischen Marken sich als noch beliebter herausstellten als die deutschen. So wurden Millionen von Zigaretten in Privatpaketen nach Deutschland gesendet. Auch ein Verbot auf die Privateinfuhr von Zigaretten konnte dies nicht stoppen.

Das Ende der Parallelwährung konnte erst mit einer Währungsreform im Jahr 1948 – in Österreich 1945 – erreicht werden. Zusammen mit umfassenden Wirtschaftsreformen sorgte die Deutsche Mark dafür, dass Preisstabilität und die Funktionen des Geldes – Rechnungseinheit, Wertspeicher und Zahlungsmittel – wieder ausreichend erfüllt werden konnten, wodurch es keiner Komplementärwährung mehr bedurfte.

Text: Magdalena Frei Illustration: Wolfgang Wiler