Für Niki Popper ist es an diesem Donnerstagvormittag bereits das zweite Interview – in aller Früh war bereits der ORF dran. Und auch an den Tagen davor und danach taucht Popper in Radio, TV, Zeitungen und Agenturmeldungen auf. Vor eineinhalb Jahren wäre diese Häufung von Medienanfragen für den Simulationsforscher noch völlig ungewöhnlich gewesen, doch der Bedarf an Einschätzungen, wie sich während der Coronakrise verschiedene Pandemiemaßnahmen auf die Infektionszahlen auswirken werden, hat den an der TU Wien tätigen Simulationsforscher in den Blickpunkt der Öffentlichkeit katapultiert.
Durch seine starke Medienpräsenz wurde der heute 47-Jährige zum Begleiter durch das Auf und Ab der Krise. Popper wurde zu einer Art personifiziertem Corona-Vorhersagedienst und Maßnahmenerklärer. Geduldig erläuterte er Medienkonsument*innen, warum Kontaktbeschränkungen manchmal sinnvoll sind und manchmal nicht oder in welchem Ausmaß sie eine Infektionswelle bremsen könnten. Flachte eine Welle ab, rechnete er vor, welche Öffnungsschritte nun vertretbar seien. Und heute, in der laufenden Impfkampagne, versucht der Forscher zu erklären, wann mit welchen substanziellen Effekten zu rechnen sei.
Die Vermittlungsarbeit selbst ist dabei für Popper gar nicht neu. „In meiner TU-Gruppe, dem Centre for Computational Complex Systems (Cocos), und im Spin-off-Unternehmen DWH GmbH beschäftigen wir uns seit vielen Jahren mit der Frage, wie man die Ergebnisse komplexer Modellierungen gut kommunizieren kann. Auch wenn wir beispielsweise im Gesundheitsbereich oder in der Güterlogistik die Aufgabe haben, Prozesse zu verbessern, werden unsere Ergebnisse von den Managern dort kritisch hinterfragt“, betont der Experte. „Oft zeigen sich Effekte, die der Intuition zuwiderlaufen. Da müssen wir durchaus viel Überzeugungsarbeit leisten.“ Die öffentliche Reichweite der Modellerklärungen in Zeiten der Coronakrise – die ist dagegen neu.
OFT ZEIGEN SICH EFFEKTE, DIE DER INTUITION ZUWIDERLAUFEN.
Niki Popper, Koordinator Cocos, TU Wien
DOCH SELBST EİNE STARKE STİMME der Wissenschaft wird von Politik und Bevölkerung nicht immer im erforderlichen Ausmaß gehört. Immerhin haben neun Landesregierungen oft recht unterschiedliche Vorstellungen, wie man auf eine konkrete Pandemiesituation zu reagieren habe. Popper lässt sich nicht frustrieren: „Man darf nicht erwarten, dass alle nur darauf warten, was wir zu sagen haben. Wenn man Teil von politischen Prozessen ist, kann man nicht davon ausgehen, immer gehört zu werden. Da muss man die Kirche im Dorf lassen. Wichtig ist, dass man alles so genau und verständlich wie möglich auf den Tisch legt“, sagt Popper.
Gleichzeitig kann aber auch im Zusammenspiel von Politik und Expert*innen noch viel getan werden, um Krisenstrategien strukturierter aufzubauen: „Welche Forschungen wann und wie zur Grundlage von öffentlichen Maßnahmen werden – diese Prozesse müssen nachvollziehbar und transparent gemacht werden“, erklärt der Wissenschaftler. „Man darf sich nicht damit begnügen, dass nur dann auf die Wissenschaft gehört wird, wenn es den politischen Akteuren in den Kram passt. Auch die Bevölkerung schaut da berechtigterweise sehr genau darauf.“
Doch auch die Wissenschaft selbst ist in der Pflicht, zu zeigen, woher ihre Ergebnisse kommen. Und gerade in der Modellierung komplexer und dynamischer Systeme, bei denen ein abgeänderter Parameter weitreichende Folgen für das gesamte simulierte Netzwerk haben kann, ist diese Aufgabe nicht einfach. Poppers Forschungsgruppe hat etwa – zusätzlich zu den üblichen epidemiologischen Modellgleichungen und statistischen Methoden – eine „virtuelle Bevölkerung“ Österreichs entworfen, anhand derer sich Maßnahmen und Entwicklungsmöglichkeiten durchspielen lassen.
„Wir bauen Kontaktbeschränkungen, Coronatestkampagnen oder Impfprogramme kausal nach und sehen uns an, welche Auswirkungen sie in den Netzwerken der neun Millionen virtuellen Landesbewohner haben“, schildert der Simulationsforscher. „Die kurzfristigen Prognosen, die wir dadurch abgeben können, sind dabei, wenn man ehrlich ist, nicht besser als in anderen Modellen. Aber uns geht es im Grunde darum, die zugrunde liegenden und langfristig wirksamen Mechanismen zu verstehen und Kausalitäten abzubilden.“ Nicht das Erstellen der Modelle ist dabei der größte Teil der Arbeit; 90 Prozent der Zeit gehen in ihre Validierung – und damit in die Sicherstellung, dass tatsächlich reale Prozesse abgebildet werden.
Niki Popper
studierte Mathematik, Philosophie und Jazz, wobei er letztere zwei Studien nie abschloss. Er promovierte an der TU Wien und ist heute Koordinator des TU-Wien-Programms Cocos (Centre for Computational Complex Systems). Zudem hat er zwei Unternehmen – „Drahtwarenhandlung“ und die DWH GmbH – gegründet.
AUCH WENN DİE CORONAKRİSE sehr spezifische Anforderungen an Poppers Team stellt, unterscheiden sich die verwendeten Werkzeuge nur wenig von anderen Simulationsaufgaben. Wenn es um Fragestellungen rund um Mobilität und Logistik geht, die neben dem Gesundheitsbereich ein weiterer Arbeitsschwerpunkt der TU-Wissenschaftler sind, kommt etwa eine andere Weiterentwicklung des Bevölkerungsmodells auf einer interaktiven, dynamischen Landkarte zum Einsatz. „Daraus lässt sich ablesen, wie sich eine Veränderung der Verkehrswege auf das Verhalten der Menschen auswirkt oder welche Verkehrserfordernisse eine stärkere Zuwanderung in einem Gebiet mit sich bringt“, gibt Popper Beispiele.
Konkret spielten Popper und sein Team etwa im Auftrag der ÖBB optimierte Simulationen des Schienengüterverkehrs in Österreich durch. Zu den wichtigsten Fragen gehörte dabei, wann und wo im Schienennetz Loks und Waggons bereitstehen müssen, um sie besser als bisher einzusetzen. In der Simulation wurde das heimische Schienennetz im Detail nachgebaut, um verschiedene Maßnahmen durchzuspielen und den Ressourceneinsatz besser zu gestalten. Die Aufgabe sei ähnlich dem bekannten Travelling-Salesman-Problem im Bereich der mathematischen Kombinatorik, erklärt Popper.
Dabei soll eine Route über verschiedene Orte gefunden werden, die jeden dieser Orte aber nur einmal berührt. „Optimierung kommt bei dieser Klasse an Problemen sehr schnell an ihre Grenzen. Selbst bei relativ wenigen Knotenpunkten – in diesem Fall ÖBB-Bahnhöfe – wird die Aufgabe enorm komplex und mathematisch schwer lösbar“, skizziert der Wissenschaftler. „Vor allem müssen die Lösungen auch robust sein – das bedeutet, sie müssen auch mit Störungen wie etwa Verspätungen umgehen können. Diese Sachverhalte können wir erstmals realitätsnah in der Simulation mit einer künstlichen Intelligenz abbilden.“
DER WEG, DER POPPER zum „Mister Corona-Vorhersage“ machte, führte über Knotenpunkte, die im und außerhalb des akademischen Bereichs liegen. In welche Richtung es gehen sollte, war ihm aber schon früh klar: „Mich hat tatsächlich schon in der Schule interessiert, wie man soziotechnische Systeme beschreiben kann“, blickt der Wissenschaftler zurück. Besonders die Kybernetik mit ihrem Wegbereiter Norbert Wiener und der System-Dynamics-Begründer Jay Wright Forrester hatten es ihm damals angetan. Letztendlich brachten ihn diese Vorbilder dazu, Mathematik an der TU Wien zu studieren. „Ich habe mir den Luxus geleistet, das zu machen, was mir taugt“, sagt Popper heute. Dazu gehörte übrigens auch, nebenher Jazzmusik zu studieren.
Anfang der 2000er war er beim ORF für die Entwicklung von Infografiken zuständig und versuchte Ereignisse wie 9/11 oder komplizierte Wahlsysteme für die Zuseher*innen fassbar zu machen. Er war Mitbegründer von Unternehmen, die sich wissenschaftlichen Filmproduktionen und Simulationsservices widmen, bevor er mit dem Doktorat und dem folgenden Engagement an der TU Wien wieder ins akademische Leben eintauchte. Der Ausgangspunkt für die Beschäftigung mit Interventionsmodellierungen im Gesundheitsbereich liegt bereits im Jahr 2010. Damals starteten erste Projekte zur Evaluierung von Therapien. 2014 entstand die von Popper geleitete Forschungsplattform Dexhelpp (Decision Support for Health Policy and Planning), die bis heute Partner aus dem Gesundheitssystem mit Universitäten verbindet. „In Dexhelpp haben wir es nicht nur geschafft, Modelle und sichere Datenprozesse zu etablieren – die Erfahrungen, Netzwerke und Vertrauensverhältnisse, die mit der Arbeit mit Institutionen im Gesundheitswesen entstanden, versetzen uns heute erst in die Lage, das Corona-Krisenmanagement zu unterstützen“, schildert Popper die Vorgeschichte zu seiner heutigen Rolle.
Text: Alois Pumhösel