Gianmaria Gava

„DANN BLEIBT ES AUF PAPIER“

Paulus Ebner leitet seit fünf Jahren das Archiv der TU Wien. Wir haben mit ihm über die ältesten Unterlagen im Archiv, den mühsamen Prozess
des Digitalisierens und Forschung und Studieren im Wandel der Zeit gesprochen.

Text: Sophie Schimansky Foto: Gianmaria Gava

Was sind die ältesten Unterlagen, die Sie archiviert haben?

[PAULUS EBNER]: Grundsätzlich beginnen unsere Dokumente im Jahr 1815, also erst mit der Verwaltung des Hauses. Wir haben alle Studierenden-Akten von 1815 bis 1969 gesammelt, das ist schon sehr spannend.
Da sind prominente Leute wie Johann Strauss, Josef Strauss, Christian Doppler oder Viktor Kaplan dabei. Auch Menschen aus der Kulturgeschichte sind da zu finden – Fritz Lang (Regisseur des Kultfilms „Metropolis“, Anm.) hat hier mal kurz studiert; auch prominente Architekten wie Richard Neutra. Und von denen haben wir wirklich die kompletten Unterlagen auf Papier.

Was sind das für Studierenden-­Unterlagen?

[P. E.]: Die sind superinteressant, wenn man etwa Familienforschung macht. Da hat man Unterlagen über den Geburtsort, die Zuständigkeit der Familie, die Muttersprache, die Konfession, die Vorbildung
und natürlich jede einzelne Lehrveranstaltung, die hier im Haus belegt wurde; ob eine Prüfung abgelegt wurde, welche Note man auf diese Prüfung bekommen hat, et cetera. Man kann auch schauen, ob die später prominenten Architekten gute Noten im Studium hatten. Das sind tolle Unterlagen für die biografische Forschung.

Wie können Studierende dieses ­Archiv nutzen? Kann jeder darauf zu­greifen?

[P. E.]: Wir sind ein öffentlich zugäng­liches Archiv, das ist ganz entscheidend für uns – das heißt, man muss in keinem Nahe­verhältnis zur TU Wien stehen. Wir haben allerdings natürlich eher auf Technik fokussiertes Material.

Die Studierenden haben jedenfalls immer wieder gemeinsame Lehrveranstaltungen, in denen wir zum Beispiel unsere Nachlässe von Architekten, die mit dem Haus in Verbindung standen, einbringen. Insofern ­entwickeln wir auch manchmal Lehr­veranstaltungen mit Studien wie Kunstgeschichte oder Architektur­geschichte, und das ist eine Win-win-Situation für uns, weil unsere Unterlagen dadurch bekannter ­werden – und natürlich auch für die Studierenden, da sie mit Originalquellen arbeiten können, was in der digitalen Zeit ja auch nicht so oft vorkommt.

Sie sitzen an der Quelle für Forschungsunterlagen aus mehr als 200 Jahren. Wie hat sich denn Wissenschaft oder der Begriff der Wissenschaft über diesen Zeitraum verändert? Was verstehen wir ­heute darunter und was war es ­damals, wenn man jetzt mal bedenkt, dass seit dem Wiener Kongress 1815 einiges passiert ist: Da gab es zwei Weltkriege, die deutsche Revolution und so weiter …

[P. E.]: In den ersten 100 Jahren unserer ­Unterlagen spielt Forschung keine Rolle. Das kann man ganz klar so sagen. Das ist damals auch keine Hauptaufgabe, sondern die Lehre ist das Wichtige. Vom Niveau her wurde natürlich für die technische Praxis ausgebildet, das war das Ziel; Forschung passierte aber außerhalb der Hochschule. Was aber sehr wohl eine ganz zentrale Aufgabe von Anfang an war: einen Ort für Technologietransfer zu schaffen.

Was heißt das genau?

[P. E.]: Das heißt, dass hier im Haus zum Beispiel alle österreichischen Erfindungen und Patente gesammelt wurden, die im 19. Jahrhundert, also bis 1899, entwickelt worden sind – „österreichisch“ im Sinne der österreichischen Reichshälfte der Doppelmonarchie. Es gab kein Patentamt.

Das Patentamt war eigentlich das sogenannte k. k. (kaiserliche und königliche, Anm.) Polytechnische Institut, wie es damals hieß. Und die abgelaufenen Patente, Privilegien hießen sie damals, kamen sofort, nachdem sie abgeschlossen waren, hierher zurück ins Polytechnische Institut. Sie konnten von jedermann eingesehen werden, um die frei gewordenen Erfindungen in die Wirtschaft einzuspielen. Das war eine zentrale Aufgabe, die die Professoren wirklich erfüllen mussten. Sie waren zum Beispiel verpflichtet, diese Patente am Sonntag zu erklären, auch die Funktion von Produkten. Das war damals das Anforderungsprofil für Professoren in diesem Haus.

Was waren das für Patente?

[P. E.]: Eine Schiffsschraube von Josef ­Ressel aus dem Jahr 1826 zum Beispiel. Auch das Bugholz-Privileg der Familie Thonet ist hier bei uns im Archiv; oder der Klavierbauer Bösendorfer: Dieser besondere Anschlag beim Bösendorfer-Flügel, diese Erfindung mit Zeichnung und allem Drum und Dran, liegt bei uns im Archiv. Jeder, der die frühe Industriegeschichte des 19. Jahrhunderts recherchiert, wird irgendwann einmal auch bei uns landen, wenn ihn die technische Seite interessiert.

Paulus Ebner

Paulus Ebner ist Historiker und leitet seit 2016 das Archiv der TU Wien.

 

Ich stelle mir vor, dass die Unterlagen von vor 200 Jahren einen ganz bestimmten Kreis von Menschen zeigen, wahrscheinlich vor allem Männer aus gewissen Schichten, die studiert und geforscht ­haben. Wie hat sich das verändert?

[P. E.]: Ja, das ist eine gute Frage. 1815 ist es hier natürlich nur männlich, das muss man dazusagen. Frauen wurden an österreichischen technischen Hochschulen unfassbarerweise erst 1919 zugelassen. Es ist mehr als die Hälfte der Geschichte rein männlich, aber innerhalb der Gruppe ist das Bild extrem divers: Da haben wir Adelige, aber auch Maurer und Handwerker. Wir haben Menschen, die über 40 Jahre alt sind, und auch 14-Jährige. Es war wirklich ein ganz gemischter, noch nicht formalisiert festgelegter Kreis, der hier inskribiert hatte. Viele waren von den Studiengebühren befreit. In den 20er-, 30er-Jahren ist es so, dass die ersten Frauen auftauchen, eher aus dem ­jüdischen Bereich kommend. Es ist eine ganz, ganz spannende Mischung.

Es gab damals ja keine formale Bedingung. Man musste nur dem Unterricht folgen können und im Idealfall auch die vierte Klasse der Realschule abgeschlossen haben. Wenn das nicht der Fall war, konnte man eine Aufnahmeprüfung machen. Die gesetzlich vorgegebenen Regeln, mit Matura oder Abitur in Deutschland, das hat sich erst später entwickelt – erst in den 60er-, 70er-Jahren. Und dann kippt es auch: In den 60ern kippt dieser völlig freie Zugang in eine völlige Verschulung, also von einem Extrem ins andere, in einen Stundenplan.

Der beginnt am Montagmorgen und ­endet am Samstag um 12 Uhr. Und dann hat man 60 Stunden Vorlesungen pro Woche gehört – oder so ähnlich. Es gab hier im Jahr 1865/66 noch ein sehr fortschrittlich klingendes Modell, nämlich die Lehr- und Lernzeit. Das heißt, es gab keine Curricula, es gab keine klar strukturierten Studienpläne. Jeder hörte sich an, was er wollte, also wovon er glaubte, dass für ihn wichtig war. Nachteil: Es gab natürlich auch keine Studienabschlüsse im heutigen Sinn. Es gibt prominente Architekten, die bei uns waren, aber formal gesehen müsste man sagen: Diese Person hat zwar bei uns studiert, aber ein Architekturstudium abgeschlossen hat sie eben nicht.

Und jetzt? Heute ist es sehr international. Das war es bis zu einem gewissen Grad immer, aber eher „binnen-international“: Es kamen Studierende aus Galizien sowie den östlichen und nördlichen Gebieten der Monarchie hierher. Und rund um 1900 war ein sehr, sehr großer Anteil auch jüdisch, in manchen Jahren bis zu 30 %.

Mich interessiert natürlich bei solch alten Unterlagen, wie ­diese digitalisiert werden. MAN kennt ja die Geschichte des Kölner Stadtarchivs, das 2009 einstürzte. Wenn man so spannende, wertvolle Unterlagen in einem Archiv hat, die natürlich durchaus auch anfällig für Zerstörung sind, solange sie nicht digitalisiert sind: Wie geht man damit um? Wie lange dauert das? Wie weit ist man?

[P. E.]: Da wird der Zeitaufwand extrem unterschätzt. Da geht es nicht nur um den Vorgang der Digitalisierung, sondern auch die ganze Logistik dahinter. Man muss das in ein Informationssystem einführen, sich genau überlegen, wie da aus linken und rechten Seiten ein digitales Dokument entsteht. Und wenn es dann zu groß ist, muss man das splitten und anschließend in einem Programm wie Photoshop zusammensetzen. Es gibt sehr, sehr viel zu tun, und das geht alles so viel langsamer, als man denkt! Wir haben aber tolles Equipment bekommen und arbeiten fast ständig daran. Drei Tage in der Woche ist das Gerät eingeschaltet. Es gibt hier aber nur vier Vollzeitstellen. Eine Person ist praktisch immer am Digitalisieren, und trotzdem haben wir noch nicht einmal 0,01 % unseres Bestands digitalisiert. Das wird wohl das nächste Großprojekt werden.

Wir machen aber natürlich auch „Digitalisierung on Demand“: Wenn jetzt zum Beispiel von diesen Privilegien – von diesen Erfindungen, über die wir gesprochen haben – etwas benötigt wird, dann fertigen wir das an und fügen es gleich in unser System ein. Das passiert aber noch nicht systematisch. Die Abgabenordnung schreibt vor, dass ein Papier erst zu uns kommen sollte, wenn es nicht mehr für den täglichen Bedarf benötigt wird, frühestens nach zehn Jahren. Ich schätze mal, die Zeit zwischen 1990 und 2010 wird allein rund 30 % des gesamten Depots fressen! Das ist für uns inzwischen eine Existenzfrage; wir haben Angst, dass wir bald platzen.

Es ist einfach ganz entscheidend, dass die Digitalisierung in einer gezielten und strukturierten Form passiert. Es geht nicht mehr so weiter. Wir können nicht Hunderte Laufmeter von Dekanatsakten, die gesetzlich mindestens 80 Jahre aufgehoben werden müssen, selbstständig digitalisieren, das geht nicht, wir sind ein Miniteam. Und wenn man das nicht machen kann, dann muss es auf Papier bleiben.