David Višnjić

AZRA KORJENIC

Lebende Konstruktionen. Auf Städtereisen sieht sich Azra Korjenic insbesondere die Fassaden ganz genau an. Denn die Forscherin, die an der TU Wien das Institut für Ökologische Bautechnologien leitet, ist mit ihrer Arbeit im Bereich Fassadenbegrünung weltweit führend. Um ihre Ideen langfristig zu etablieren, setzt Korjenic stark auf die Kooperation mit Schüler*innen. Das macht sie auch beim Thema Klimakrise zuversichtlich: „Die junge Generation wird das schon richten.“

Text: Klaus Fiala Foto: David Višnjić

Der Artikel erschien in der Ausgabe 1–21 „Mobilität“.

Es gibt das Phänomen der Déformation pro­fessionnelle, bei der Verhaltensweisen aus dem eigenen Beruf auch andere Lebensbereiche be­einflussen. Ist das bei Ihnen der Fall? Suchen Sie, etwa auf Städtetrips, ständig nur grüne Fassaden?

AZRA KORJENIC: Auf jeden Fall. Nicht nur das Grüne – ich schaue mir grundsätzlich die gebaute Umwelt genau an. Meine Familie belächelt mich manchmal, weil ich mir alle Gebäude ansehe, sie auf Bauschäden oder Begrünungen untersuche. Egal, ob wir in Paris oder in London unterwegs sind – ich schaue mir Städte einfach anders an.

Suchen Sie denn auch Ihre Reiseziele nach solchen Gesichtspunkten aus?

[A. K.]: Bei unseren Exkursionen mit Studierenden wählen wir ganz gezielt Städte aus, die in Bezug auf Nachhaltigkeit etwas Besonderes bieten. Wir haben in diesem Zusammenhang etwa Mailand mit dem Projekt „Bosco Verticale“ (auf Deutsch „senkrechter Wald“, begrünte Zwillingstürme eines ­Hochhauskomplexes, Anm.) besucht. Wegen Corona mussten wir die Exkur­sionen zuletzt stornieren. Sobald es wieder möglich ist, ­werden wir diese Reisen aber wieder machen.

Das Thema Nachhaltigkeit hat jüngst große Aufmerksamkeit erhalten. Beeinflusst das Ihre Arbeit?

[A. K.]: Ja, vor allem im Bezug auf die Begrünung von Gebäuden und deren Umgebung. Wir waren alle ein Jahr lang eingesperrt, darunter ältere und kranke Personen – da hat man wirklich große Unterschiede in der psychischen Verfassung gesehen, wenn die Umgebung begrünt war und die Menschen in den Garten durften oder wenn alles rundherum asphaltiert oder grau war. Das Thema ist wichtiger geworden.

Sie sind nicht nur Expertin für Fassadenbegrünung, sondern auch die Leiterin des Instituts für Ökologische Bautechnologien an der TU Wien. Die Menschen bauten die längste Zeit mit Materialien, die sehr gute thermische Eigenschaften haben, etwa mit Lehm; in jüngerer Vergangenheit wurden dann vermehrt Materialien wie Zement verwendet. Erleben wir ­gerade eine Rückkehr zum Ursprung?

[A. K.]: Man hat die Bauweise von früher komplett vergessen, die junge Generation hat das also nie gelernt. Vieles kennt man zwar noch von früher, die bautechnischen Anforderungen sowie die Lebensweise der Menschen haben sich aber völlig verändert. Daher muss man das neu denken. In Teilen der arabischen Welt werden beispielsweise bis heute jedes Jahr die Fassaden weiß gestrichen. Das wollen wir natürlich nicht. Wir wollen Konstruktionen, die langfristig funktionsfähig sind. Daher muss man die alte Bauweise, die sehr gut war, mitnehmen und an die neuen Bedürfnisse und Anforderungen anpassen. Das tun wir, indem wir uns auch ansehen, welche Baustoffe lokal verfügbar sind. Es bringt etwa nichts, wenn wir Mineralwolle mit Schafwolle ersetzen, die Schafwolle aber aus Australien importiert wird. Wir müssen uns wirklich den gesamten Lebenszyklus von Produkten ansehen. Wenn man über Ressourcen und Energieeffizienz spricht, müssen wir immer die gesamte Wertschöpfungskette betrachten.

Das klingt sinnvoll, ist aber auch eine Kostenfrage.

[A. K.]: Wir kämpfen ständig mit den zu hohen ­Preisen. Fassadengebundene Begrünungssysteme bringen etwa sehr viel in Bezug auf die Lebensqualität, sind aber ­immer noch recht teuer. Die Kosten fallen jedoch vor allem bei der Anschaffung an. Wenn man sich das dann auf 50 Jahre ausrechnet, ist es insgesamt gar nicht so teuer – vor allem verglichen mit dem, welchen Nutzen die Systeme letztendlich bringen. Und diese kann man auch weiter optimieren. In unserem Projekt „Mehr Grüne ­Schulen“, wo wir Schulfassaden begrünen, ­optimieren wir solche Systeme und integrieren sie in bestehende Fassadenkonstruktionen. Wir binden da auch die Schüler*innen ein, mit großartigen Ergebnissen. Die Ideen der Kinder und Jugendlichen sind wirklich toll.

Welcher Anteil Ihrer Konzepte ist – salopp formuliert – Gartenarbeit, wie viel ist Wissenschaft?

[A. K.]: Gartenarbeit ist bei uns minimal. Wir arbeiten stark interdisziplinär, fast in jedem Projekt kooperieren wir mit dem Bereich Vegetationstechnik der Boku; die Kolleg*innen da sind für die Substrate und Pflanzen zuständig. Was wir machen, ist reine Bau- und Messtechnik. Wir analysieren und optimieren Systeme, untersuchen Wärme­brücken und -verluste, messen die Auswirkungen auf den Innen- und Außenraum, führen Mikroklimamessungen in der Umgebung durch, sehen uns die Schadstoffreduktion oder die Staub- und CO2-Bindungseigenschaften an et cetera.

Welche Rolle spielen die verwendeten Pflanzen?

[A. K.]: Eine bedeutende – da das lebende Konstruktionen sind, die sich stets verändern. Auch die Daten aus den einzelnen Jahren sind nur bedingt vergleichbar. Manche Systeme erreichen ihr volles Potenzial schnell, Kletterpflanzen brauchen beispielsweise viel länger. Wir wissen sehr genau, wie sich welche Pflanzenart verhält, wir haben auch die Leistungen einzelner Pflanzen gemessen – etwa deren CO2- und Staub­bindung, oder inwiefern sie Lärm mindern.

In China gibt es ein Gebäude, das begrünt wurde – ­wegen der entstandenen Gelsenbelastung steht es bis heute weitgehend leer. Welche Rolle spielen solche Bedenken in Ihrer Arbeit?

[A. K.]: In all unseren Projekten müssen wir uns dieses Thema ganz genau ansehen. Wir haben mittlerweile schon ein paar Schulen in Wien begrünt. Beim allerersten Projekt haben wir unter anderem den Wiener Stadtschulrat um Unterstützung gebeten, denn die Mittel werden von der Forschungsförderung nur zu 60 % gedeckt. Damals war es so, dass der Stadtschulrat das Projekt jedoch nicht unterstützte – mit der Begründung, dass manche Kinder allergisch auf gewisse Insekten oder Pflanzenarten sind. Wenn eines dieser Kinder dann gestochen würde, müsste jemand die Verantwortung tragen. Wir suchen daher gemeinsam mit der Boku gezielt nach Pflanzen, die Insekten nicht anziehen. Vieles, was blüht und schön aussieht, zieht Tiere an. Manche wollen keine Insekten, andere wollen extra Lebensraum für Bienen bieten. Da muss derjenige, der das Projekt beauftragt, im Einzelfall entscheiden, was ihm letztendlich lieber ist.

Es wirkt oft so, als wären solche Projekte – sei es ­Bosco Verticale in Mailand oder der Gebäude­komplex Kö-Bogen 2 in Düsseldorf – noch immer Ausnahmen. Man fährt dorthin, bestaunt das ­Konzept und fährt dann wieder zurück in sein un­begrüntes Zuhause. Warum sind solche Projekte noch nicht im Mainstream angekommen?

[A. K.]: Es ändert sich schon etwas – aber nur langsam. Fassadengebundene Begrünung ist vergleichsweise neu und nicht komplett erforscht. Wir waren weltweit die Ersten, die Studien zu den Einflüssen von grünen Fassaden auf Aspekte wie U-Wert-Beeinflussung, Wärmeverluste et cetera publiziert haben. So sind wir bekannt geworden in diesem Bereich. Es entstehen ständig neue Systeme, seien es Trog-, Kassetten- oder Mattensysteme. Das verwirrt viele noch zusätzlich. Und wenn dann noch etwas an der Technik nicht funktioniert, schreckt das auch ab. Aber der wichtigste Punkt in diesem Zusammenhang sind die Kosten: Die Systeme sind zu teuer, nur wenige können oder wollen sich das leisten.

Was ist denn so teuer?

[A. K.]: Momentan gibt es einfach nicht sehr viele Unter­nehmen in diesem Bereich. Die Bestandteile an sich sind nicht so teuer; mehr Konkurrenz würde die Preise senken. Wie mit jeder Technologie werden aber auch hier die Kosten langfristig sinken.

EIN BAUM, DER AN DER FALSCHEN STELLE GEPFLANZT WIRD, KANN SOGAR KONTRAPRODUKTIV SEIN.

Azra Korjenic, Leiterin Forschungsbereich Ökologische Bautechnologien

Wie steht denn die TU Wien in diesem Bereich im Vergleich zu anderen Universitäten da?

[A. K.]: Im Bereich Fassadenbegrünungen sind wir, also meine Abteilung, weltweit unter den Top-Forschungsinstitutionen. Wir arbeiten auch seit Jahren daran, Forschungslücken zu schließen. Wir sind da wirklich vorne mit dabei. Und im konkreten Bereich Schul­begrünungen liegen wir weltweit an erster Stelle – viele Meldungen von Kolleg*innen und E-Mails von Journalist*innen bestätigen das. Wir haben bereits sechs Schulen begrünt, das sind alle für sich schon Großprojekte.

Wie sind Sie auf dieses Thema gekommen?

[A. K.]: Ich habe meine Dissertation und Habilitation ja in der Bauphysik gemacht. Als die ersten fassadengebundenen Begrünungen in Österreich starteten, hat mich ihre bauphysikalische Funktionsfähigkeit inter­essiert. Anschließend startete ich mit einem Großprojekt, um diese genauer zu untersuchen. Ich habe mich damals entschlossen, den Fokus auf Schulen zu legen und die junge Generation bei den Projekten aktiv einzubinden und für diese Innovationen sowie die Nachhaltigkeitsthemen zu sensibilisieren. Das ist wie Mülltrennung: Wenn man damit aufwächst, passiert es später automatisch. Das ist der einzige Weg in Richtung langfristige Nachhaltigkeit.

Welche Stadt ist denn weltweit am spannendsten, wenn es um „Ihre“ Themen geht?

[A. K.]: Singapur gilt quasi als Vorbild für die ganze Welt. Der Unterschied ist, dass es dort ausreichend finanzielle Mittel gibt, nahezu alle Projekte in diesem Bereich werden auch finanziert.

Wenn Sie Bürgermeisterin von Wien wären: Was würden Sie als Erstes ändern?

[A. K.]: Ich würde eine stark interdisziplinäre Arbeitsweise etablieren. Man muss Expert*innen aus verschiedenen Bereichen einbinden, damit man nichts übersieht. Ein Beispiel: Einen Baum zu pflanzen ist grundsätzlich sinnvoll, um Straßenzüge klimafreundlicher zu gestalten – doch ein Baum an der falschen Stelle kann sogar kontraproduktiv sein.

Sind Sie optimistisch, was die Bekämpfung der Klima­krise angeht?

[A. K.]: (zögert) … es geht in die richtige Richtung, aber man müsste viel mehr machen. Man sollte mehr mit lokalen, nachwachsenden Materialien bauen. Hier wäre speziell bei Sanierungen viel mehr möglich. Ich bin durch die Schulprojekte aber viel mit den Jungen in Kontakt, das gibt mir Zuversicht. Die neue Generation agiert anders als wir, die wird das schon richten.

Azra Korjenic
wuchs in Sarajevo auf und studierte Maschinenbau und Bauingenieurswesen. 1994 kam sie nach Wien, 2003 promovierte sie im Bereich Bauphysik an der TU Wien, 2012 folgte die Habilitation. Seit Jänner 2019 leitet sie an der TUW den Forschungsbereich Ökologische Bautechnologien.

Sie wurden in Sarajevo geboren. Sind Sie denn in einem wissenschaftsnahen Umfeld aufgewachsen?

[A. K.]: Nein, gar nicht. Mein Vater war Bautechniker. Ich bin also schon früh auf Baustellen mitgegangen. Später, in der HTL, habe ich dann auch große Estrich­flächen alleine bearbeitet. Das war für mich Entspannung – Bauen war immer in meinem Leben. Doch in Bosnien gab es nicht viele Wahlmöglichkeiten. Ich wusste auch nicht, was ich genau machen will. Wichtig war mir nur, dass ich etwas bewegen und das Leben der Menschen besser machen kann.

Wann kamen Sie nach Wien?

[A. K.]: 1994 als Kriegsflüchtling. Mein erster Job war in einem Planungsbüro. Da haben wir Tiefbauprojekte umgesetzt, das war super. Aber ich habe gemerkt, dass es für mich nicht spannend ist, immer sehr ähnliche Projekte zu machen. Also habe ich für mein Doktorat an die TU Wien gewechselt. Ich habe als Projekt- und Universitätsassistentin gearbeitet, bevor ich die klassische Laufbahn in der Wissenschaft gemacht habe.

Sie haben einige Auszeichnungen erhalten. Gab es da eine, die Ihnen besonders wichtig war?

[A. K.]: Die Preise sind eine Anerkennung für die Relevanz des Bereichs, mit dem ich mich beschäftige. Besonders gefreut habe ich mich da über den Energy Globe (Korjenic erhielt die Auszeichnung 2015, Anm.). Der Preis zeigt, dass unser Forschungsbereich speziell für die Wirtschaft wichtig ist.

Frustriert Sie in Ihrer Tätigkeit als Forscherin denn etwas?

[A. K.]: Die Projektentscheidungen. Wir sind in ­einem Wettbewerbsverfahren, müssen Projektideen einreichen, und Jurys entscheiden, welche Projekte genehmigt werden. Doch da werden manchmal Projekte abgelehnt, die aus meiner Sicht eine ganz wichtige ­Forschungslücke schließen könnten. Und andere Projekte werden genehmigt, die meiner Meinung nach nicht so wichtig sind. Hätten wir eine gesicherte ­Finanzierung, würde ich noch viel mehr umsetzen.

Wie werden Städte in zehn Jahren aussehen?

[A. K.]: Auf jeden Fall grüner! (lacht) Autos wird man immer brauchen, aber es gibt Möglichkeiten, ohne fossile Treibstoffe auszukommen. Auch an der TU Wien sehe ich einige spannende Ansätze. Zehn Jahre sind vermutlich zu kurz, aber die Städte werden in Zukunft grüner und ökologischer sein.