Auf lange Sicht sind wir alle tot

Er gilt als bedeutendster Ökonom des 20. Jahrhunderts, prägte die Wirtschaftspolitik der Nachkriegszeit. Ganz nebenbei gelang es John Maynard Keynes mit seinem Werk „Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes” die Volkswirtschaftslehre zu revolutionieren.

Text: tuw.media-Redaktion

Als die US-amerikanische Investmentbank Lehman Brothers im September 2008 Insolvenz anmeldet, ist die Finanzkrise auf ihrem Höhepunkt. Banken weltweit drohen mit in die Tiefe gerissen zu werden, Nationalstaaten springen ein, um ein Zusammenbrechen der Weltwirtschaft zu verhindern. Dabei greifen Ökonomen und Politiker auf Modelle zurück, die seit den 70er-Jahren als verstaubt und fast vergessen galten: die Theorien des britischen Volkswirten John Maynard Keynes. Im Zentrum steht dabei das „deficit spending”, eine krisenorientierte Wirtschaftspolitik, in der der Staat die Marktwirtschaft mit Investitionen, die durch Schulden finanziert werden, am Laufen hält.

Keynes veröffentlichte sein Hauptwerk „Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes” im Jahr 1936, unter dem Eindruck der Großen Depression der 1930er-Jahre. In dem sechs Bücher umfassenden Band richtet er sich an seine Kollegen in den Wirtschaftswissenschaften und versucht, Erklärungen und Lösungen für die lang anhaltende Krise zu finden. Bis dahin war man – auf Basis der klassischen Ökonomie – davon ausgegangen, dass sich der Markt langfristig selbst stabilisieren würde, also dass Arbeits- und Gütermärkte durch niedrigere Löhne und Preise wieder ins Gleichgewicht gebracht werden könnten, ohne dass der Staat eingreifen muss. Diese Herangehensweise wurde als „laissez-faire” bezeichnet. Keynes teilte diese Ansicht nicht. Er schrieb: „Auf lange Sicht sind wir alle tot. Die Volkswirtschaftslehre macht es sich zu leicht und ihre Aufgabe wertlos, wenn sie uns in stürmischen Zeiten nur sagen kann, dass der Ozean wieder ruhig ist, nachdem der Sturm vorüber ist.” Auch ein weiterer zentraler Punkt der klassischen Ökonomie, das Saysche Theorem, hielt der Weltwirtschaftskrise nicht stand. Diese Theorie besagt, dass es kein Überangebot an Gütern geben kann, da sich „jedes Angebot seine Nachfrage selbst schafft”, wie Keynes erklärt. In der Großen Depression trat diese Vorhersage nicht ein: es gab ein Überangebot an Gütern, die niemand kaufen wollte – oder konnte.

Um dies zu erklären, begann Keynes als Erster, Unsicherheit in seine wirtschaftlichen Theorien mit aufzunehmen. Die Ökonomen Manfred Nitsch und Philipp Lepenies beschreiben dies in „John Maynard Keynes: Unsichere Zukunftserwartungen als Motor und Bremse ökonomischer Entwicklung” wie folgt: „Die Unternehmen benötigen nur dann Sparmittel zur Investition, wenn sie expandieren wollen. Das setzt aber voraus, dass ihre Erwartungen für die Zukunft positiv sind. Sind sie das nicht, wird nicht investiert”.

Neben den Investitionen der Unternehmen ist laut Keynes der Konsum der zweite große Bestandteil der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage. Dieser hängt vom Einkommen ab, während die Investitionen von den Zukunftsaussichten bestimmt werden. Bei schlechten Erwartungen wird nicht investiert, daher sinkt die Nachfrage am Gütermarkt. Unternehmen beginnen, weniger zu produzieren und brauchen weniger Arbeitskräfte, worauf das gesamtwirtschaftliche Einkommen zurückgeht. Der daraus resultierende Rückgang der Nachfrage schließt den Teufelskreis, in dem Unternehmen immer weniger produzieren, da es keine Nachfrage gibt und Konsumenten nichts kaufen können, da sie kein Einkommen haben. In den 1930er-Jahren war genau dies passiert – und widerlegte alle Thesen, dass der Markt ohne staatliche Eingriffe ins Vollbeschäftigungsgleichgewicht – einen Zustand ohne Arbeitslosigkeit – zurückfinden würde. Nitsch und Lepenies: „Die Stagnation selbst war daher ein Gleichgewicht; es bewegte sich nichts mehr, denn es entstanden keinerlei Reize für die Unternehmer, zu investieren.”

Vor diesem Hintergrund versucht Keynes in der „Allgemeinen Theorie” die Notwendigkeit von staatlichen Eingriffen in Krisensituationen zu begründen: „Eine mäßige Änderung der effektiven Nachfrage, die mit großer Arbeitslosigkeit zusammentreffen, dürfte sich somit nur sehr wenig in einer Preissteigerung und hauptsächlich in einer Vermehrung der Beschäftigung auswirken.” Eine höhere Beschäftigung wiederum würde das verfügbare Einkommen der Haushalte erhöhen und so die gesamtwirtschaftliche Nachfrage ankurbeln.

Diejenigen, die 2008 nach Keynes riefen, waren mit dem möglichen Zusammenbruch des kapitalistischen Systems konfrontiert.

Backhouse und Bateman

Dass Keynes die ökonomische Theorie einmal derart auf den Kopf stellen würde, war nicht vorherzusehen gewesen. Noch im Vorwort der „Allgemeinen Theorie” schreibt er: „Ich selbst habe mich während vieler Jahre mit Überzeugung an die Theorien gehalten, die ich jetzt angreife.” 1883 als Sohn des britischen Ökonomen John Neville Keynes geboren, erhielt John Maynard seine Ausbildung in Eton und am King’s College in Cambridge, wo er sein Talent vor allem in Mathematik und Ökonomie bewies. Nachdem er zwei Jahre lang im britischen Indienministerium gearbeitet hatte und 1911 als Professor nach Cambridge zurückgekehrt war, war er 1919 bei den Friedensverhandlungen von Versailles der Hauptrepräsentant des britischen Finanzministeriums. Er stellte sich gegen die Pläne, Deutschland für alle Kriegsschäden Reparationszahlungen leisten zu lassen, doch da er nicht direkt an den Verhandlungen beteiligt war, konnte er sich nicht durchsetzen. Drei Wochen vor Abschluss des Vertrags verließ er deshalb die Delegation und verarbeitete seine Enttäuschung in dem Buch „Über die wirtschaftlichen Folgen des Friedensvertrages”: „Der Friedensvertrag enthält keine Bestimmungen zur wirtschaftlichen Wiederherstellung Europas, nichts, um die geschlagenen Mittelmächte wieder zu guten Nachbarn zu machen, nichts, um die neuen Staaten Europas zu festigen [...]. Auch fördert er in keiner Weise die wirtschaftliche Interessensgemeinschaft unter den Verbündeten selbst.” Keynes war überzeugt davon, dass die hohen Reparationszahlungen Deutschland und damit Europa langfristig schwächen würden. Das Buch wurde ein Bestseller, brachte Keynes internationalen Ruhm ein und trug maßgeblich zur negativen öffentlichen Wahrnehmung des Vertrages bei – was neben anderen Faktoren mit dazu beitrug, dass dieser nie von den USA ratifiziert wurde.

Es folgten weitere Publikationen, bis 1936 die „Allgemeine Theorie” erschien. Mit diesem Werk traf Keynes erneut den Zeitgeist, denn in den 30er-Jahren begann die Idee der staatlichen Ausgabenprogramme Form anzunehmen. Vorreiter waren hier die USA unter Präsident Franklin D. Roosevelt. Dieser bekannte sich zwar in seinen ersten beiden Wahlkämpfen 1932 und 1936 zu ausgeglichenen Budgets ohne Defizite, musste diese jedoch als Präsident aufgrund der wirtschaftlichen Lage in Kauf nehmen. Mit dem New Deal, der neben Nothilfezahlungen auch den Bau von Staudämmen und Straßen und andere öffentliche Aufträge enthielt, gelang es den USA, die Wirtschaftskrise zu überwinden. Keynes hatte schon 1933 in einem offenen Brief an Roosevelt appelliert, die Nachfrage durch Staatsausgaben anzukurbeln. Mit der „Allgemeinen Theorie” konnte er die Notwendigkeit von staatlichen Eingriffen nun ausführlich begründen. Damit definierte er die Makroökonomik neu, wofür er weltweit hohe Anerkennung genoss.

In den Nachkriegsjahren wurden die Theorien von Keynes und seinen Schülern zum neuen Standard in der Ökonomie. Und auch seine wirtschaftspolitischen Vorschläge begannen sich durchzusetzen: In den 1960ern wurden zeitgleich mit Japan und Westdeutschland auch in den USA unter Präsident John F. Kennedy erstmals explizit keynesianische Ideen umgesetzt. „Die größten und stärksten Volkswirtschaften waren nun in keynesianischem Management, und diese Länder blühten”, schreiben Backhouse und Bateman im Buch „Capitalist Revolutionary: John Maynard Keynes”.

Wie bei jedem Trend folgte nach dem Höhepunkt ein Abschwung: Keynes und seine geistigen Schüler betrachteten die schuldenfinanzierten Ausgabenprogramme als Lösung in Krisensituationen, doch darauf muss in der Theorie eine restriktive Budgetpolitik – mit höheren Staatseinnahmen als -ausgaben – folgen. Das war jedoch für Politiker und ihre Berater schwer umzusetzen, und deshalb stiegen die Staatsschulden in dieser Zeit stark.

Als es in den 1970er-Jahren aufgrund der Ölkrise zu einer Stagflation kam (Inflation mit gleichzeitiger Stagnation der Wirtschaftsleistung), wandten Politiker und Ökonomen sich wieder vermehrt der klassischen Ökonomie zu. Sowohl die britische Premierministerin Margaret Thatcher als auch der Chef der US-Notenbank Paul Volcker orientierten sich in den 70er- und 80er-Jahren an den Lehren von Milton Friedman, einem Gegenspieler Keynes’. Doch obwohl die keynesianische Wirtschaftstheorie in den nächsten Jahrzehnten nahezu in Vergessenheit geriet, verwenden Ökonom*innen bis heute seine Definitionen. In der „Allgemeinen Theorie” hat Keynes grundlegende Elemente der Makroökonomik definiert, auf denen heutige Theorien und moderne Wirtschaftspolitik aufbauen: von der Nachfragekurve bis hin zur Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung, die zur Berechnung des Bruttoinlandsprodukts verwendet wird.

In der Finanzkrise 2008 wurden Keynes’ Ideen wieder hervorgeholt. Wie fast 80 Jahre zuvor zeigte sich, dass die Märkte sich nicht unbedingt selbst stabilisieren und dass es in diesen Situationen Eingriffe von außen braucht. Anders als in der Nachkriegszeit ging es jetzt jedoch nicht darum, durch kluge Wirtschaftspolitik nachhaltiges Wachstum zu ermöglichen, im Gegenteil: „Diejenigen, die 2008 nach Keynes riefen, waren mit dem möglichen Zusammenbruch des kapitalistischen Systems konfrontiert.” (Backhouse und Bateman)

Durch Staatshilfen für Banken und die Förderung von Kurzarbeit konnte eine zweite Große Depression verhindert werden. Auch in der Pandemie wurden viele staatliche Hilfszahlungen geleistet. Die EU beschloss dazu einen gemeinsamen Aufbauplan in Höhe von 750 Milliarden Euro. In den USA ging Präsident Joe Biden sogar noch weiter – seine Investitionsprogramme umfassen über 1 Billion US-Dollar. Sie sollen nicht nur die Auswirkungen der Pandemie und der Lockdowns abfedern, sondern auch langfristige Investitionen in Infrastruktur, Bildung und Klimaschutz ermöglichen. Damit folgt er einer weiteren Theorie von Keynes, laut der der Staat auch außerhalb von Krisen regelmäßig investieren solle: „Der Staat, der langfristig denken kann, sollte eine immer größere Verantwortung übernehmen, direkt Investitionen zu organisieren.” Diese Investitionen dürfen aber – anders als die Krisen-Staatshilfen – nicht dauerhaft durch Schulden finanziert werden, sondern müssen durch die Staatseinnahmen gedeckt werden.

John Keynes erlebte weder den zweiten noch den ersten Höhenflug seiner Theorien. Als anerkannter Ökonom nahm er 1944 noch an der Bretton-Woods-Konferenz teil, wo er an den Grundlagen des heutigen internationalen Währungsfonds mitwirkte. Seine Vision bestand darin, ein Fixkurs-System mit einer neuen Währung für den internationalen Handel zu etablieren. Jedoch scheiterte Keynes, wie schon bei der Friedenskonferenz von Versailles 25 Jahre zuvor: Sein amerikanischer Kollege Harry Dexter White wollte den US-Dollar als Weltreservewährung und setzte sich damit durch. Während Lord Keynes – der Adelstitel war ihm 1942 verliehen worden – im April 1946 im Alter von 62 Jahren an Herzversagen starb, leben seine Ideen fort. Der amerikanische Ökonom Paul Samuelson antwortete einmal auf die Frage, ob Keynes nicht tot sei: „Ja, er ist tot. So tot wie Newton und Einstein.”  

John Maynard Keynes wird oft als bedeutendster Ökonom des 20. Jahrhunderts bezeichnet. Seine unorthodoxen, neuen Ansätze revolutionierten die Makroökonomie und schufen mit dem Keynesianismus eine neue Form der Wirtschaftspolitik.

Text: Magdalena Frei
Illustration: Katharina Dobiaß