Heinz Faßmann steht von seinem Tisch auf – und erst da merkt man, wie groß der ehemalige Wissenschaftler wirklich ist. Er grüßt freundlich – kein Handschlag, es ist schließlich Pandemie – und setzt sich hin. Es folgt ein kurzer Small Talk über Corona, Impfungen und das Wetter, bevor es ans Eingemachte geht.
Wir sind gekommen, um mit Faßmann, zu dieser Zeit noch Bildungs- und Wissenschaftsminister, über das große Thema Wissenschaft zu sprechen. Faßmann hat sich dem Thema nicht nur politisch verschrieben (von 2017 bis 2021 führte er als parteiloser Minister auf einem ÖVP-Ticket das zugehörige Ministerium), sondern auch in seinem Brotjob. Denn der Geograf, der in Düsseldorf geboren wurde und seine Kindheit in Wien verbrachte, ging den akademischen Weg: Er studierte Geografie und Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Universität Wien, arbeitete für die Österreichische Akademie der Wissenschaften, wurde Professor an der TU München, bevor er an seine Alma Mater zurückkehrte, wo er zwischen 2011 und 2017 als Vizerektor tätig war. Dann kam die Politik an die Reihe.
Dass diese ein hartes Geschäft ist, merkte Faßmann dann im Herbst 2021 am eigenen Leib: Wenn man Medienberichten glauben darf, bot Faßmann seinen Ministerposten dem neuen Bundeskanzler Karl Nehammer aus reiner Höflichkeit an. Dass dieser dieses Angebot annahm, überraschte Faßmann scheinbar völlig. Nehammer brauchte Platz für einen Steirer, heißt es gerüchteweise – und berief mit Martin Polaschek den Rektor der Universität Graz auf den Posten.
Und somit ist dieses Interview im Nachhinein fast ein Exit-Gespräch, das Faßmann uns gab, ohne dass die Beteiligten es wussten. Wir sprachen mit ihm über Wissenschaftsskepsis und Exzellenz in der Forschung, über Wettbewerb zwischen Universitäten und effiziente Mittelverteilung von öffentlichen Geldern. Faßmann erwähnte auch, dass der Zeitraum, in dem der Erfolg oder Misserfolg von Wissenschaftspolitik zu bewerten ist, nicht zu kurz gewählt sein sollte: „Effekte, die heute gesetzt werden, wirken sich in einem zehnjährigen Zeitraum aus“, so der Ex-Minister. Und auf die Frage, ob das dann bedeute, dass er eigentlich für seinen Nachfolger oder seine Nachfolgerin arbeite, antwortete der Universitätsprofessor: „Absolut. Der oder die soll dann auch sagen: ‚Wichtige Schritte wurden damals schon gesetzt.‛“
In einem Interview mit der Tageszeitung Die Presse ließ Nachfolger Polaschek versöhnliche Töne anklingen: Auf die Frage, ob er ein besserer Kopf als Faßmann sei, sagte der Neo-Bildungs- und Wissenschaftsminister: „Ich glaube nicht, dass es fair ist, von einem ,besseren Kopf‘ zu sprechen. Heinz Faßmann hat sehr gute Arbeit geleistet.“
Was Faßmann als Nächstes vorhat, war bei Redaktionsschluss nicht bekannt. Das Interview drucken wir unverändert und leicht gekürzt. Eine Freigabe der Zitate bzw. des Gesprächs, wie es oft üblich ist, fand übrigens nicht statt – Faßmanns Sprecher war nicht mehr erreichbar, vom neuen Team war ebenfalls niemand für diese Sache zu sprechen. Und so blieben wir so nahe am Wort wie leserlich möglich und zeigen Ihnen, wie der Ex-Minister seine Arbeit und die Wissenschaftspolitik in Österreich in den letzten Tagen seiner Amtszeit unbewusst reflektierte.
tuw.media: Glauben Sie, dass die letzten 20 Monate seit Ausbruch der Coronapandemie dem Ansehen der Wissenschaft geschadet oder gedient haben?
[Heinz Faßmann]: Summa summarum hat die Wissenschaft gewonnen. Es ist, glaube ich, allen klar geworden, dass die Pandemie nicht über Lockdowns, polizeiliche Kontrollmaßnahmen oder Einschränkungen der Kontakte bekämpft werden kann, sondern letztlich nur über die Impfung und Therapeutika. Und dahin gehend, glaube ich, hat es auch sehr viel zum Vertrauen in die Wissenschaft beigetragen, dass es gelungen ist, in einer Rekordzeit Impfstoffe zu entwickeln. Damit hat keiner gerechnet. Wir sehen das letztlich auch in der Eurobarometer-Umfrage, dass das Vertrauen in die Wissenschaft überall in den EU-Staaten zugenommen hat: Es gab überall ein Plus bei der Frage „Haben Sie Vertrauen in die Wissenschaft?“
Es gibt aber auch die andere Seite: In Österreich sind fast 30 % der Bevölkerung nicht geimpft, beim Eurobarometer haben sich bei der Frage, ob Wissenschaftler*innen ehrlich sind, fast 40 % enthalten oder negativ geantwortet. Es scheint, als wäre die Polarisierung stärker geworden. Wie sehen Sie das?
[H. F.]: Ja, ich muss hier leider zustimmen. Offensichtlich ist es so eine gesellschaftliche Tendenz, dass in einer Krise auch die Polarität der Meinungen gewinnt. Ich sehe es auch mit einer gewissen Sorge, dass ein gewisser Teil der Bevölkerung – zum Glück nicht die Mehrheit, sondern die Minderheit, aber dennoch – eine eigene Welt konstruiert, etwa Statistiken ausblendet oder diese als Fälschungen betrachtet, sich von der rationalen Diskussion letztlich abmeldet und in eine Irrationalität hineingeht; vielleicht getragen oder unterstützt von einer politischen Partei, aber nicht nur, das hat ganz unterschiedliche Quellen. Ich sehe das mit Sorge. Ich dachte immer, wir leben in einem aufgeklärten Zeitalter, aber ganz aufgeklärt sind offensichtlich nicht alle.
Wie, meinen Sie, muss man hier gegensteuern?
[H. F.]: Wahrscheinlich muss man beides machen: einen Zwang oder eine Verpflichtung auf der einen Seite, denn es geht nicht nur um eine persönliche Entscheidung, eine solche hat auch kollektive Auswirkungen; auf der anderen Seite – etwas anderes können Sie von mir nicht erwarten –: Ich bin weiterhin für die Aufklärung, weiterhin für die Vermittlung von Fakten. Ich glaube auch an die Belehrbarkeit des Menschen.
Was ist für Sie eigentlich Wissenschaft?
[H. F.]: Insgesamt heißt Wissenschaft, Erfahrungswissen unter kontrollierten Bedingungen zu sammeln. Das bedeutet etwa, es muss intersubjektiv überprüfbar sein; ich muss meine Ergebnisse einer Community zur Verfügung stellen und es muss überprüfbar sein. Wissenschaft heißt auch, dass ich zu Verallgemeinerungen komme, also nicht am Einzelfall hängen bleibe, sondern letztlich zu einer Gesetzmäßigkeit komme und diese postulieren kann. Wissenschaft heißt aber auch, fehler- oder irrtumsoffen zu sein, also es einzugestehen, wenn man sich geirrt hat, und eine neue These aufzustellen. Wissenschaft ist nicht dogmatisch, sondern immer wieder sich erneuerndes Wissen, und das, was gestern als wissenschaftlich erwiesen galt, kann morgen schon wieder durch eine neue These oder Theorie ersetzt werden. Wissenschaft ist ein offenes System und letztlich ein System, das von einer „Scientific Community“ geprägt wird – und nicht von Einzelnen.
Kürzlich wurden die Finanzierungszusagen beim IST Austria (Institute of Science and Technology, Anm.) verlängert. Naive Frage: Warum sind in diesem Fall langfristige Finanzierungen und die Knüpfung an Drittmittel und Qualitätssicherung möglich und bei normalen Universitäten nicht?
[H. F.]: Wir haben bei den Universitäten dreijährige Zeiträume und beim IST Austria insgesamt einen 15-jährigen Zeitraum. Der Unterschied ist, dass bei einer Universität Wien, die 1365 gegründet wurde, niemand auf die Idee kommen würde, diese zuzusperren oder sie in einem signifikanten Ausmaß zu reduzieren. Bei einer jungen Institution wie dem IST Austria, das 2009 gegründet wurde, verstehe ich durchaus die Argumentation der Leitung, die sagt: „Wenn wir exzellente Professoren berufen wollen und die uns fragen, wie sicher ihr Arbeitsplatz in einer so jungen Institution ist, dann müssen wir langfristige Zusagen machen.“ Ich kann aber auch die Beruhigung an alle Universitäten ausrichten: Es gibt keine Strukturdiskussionen, die es vielleicht bei einer jungen Institution geben könnte.
DAS HEISST, SIE ARBEITEN FÜR EINEN POTENZIELLEN NACHFOLGER ODER EINE POTENZIELLE NACHFOLGERIN?
ABSOLUT.
Der ehemalige Wissenschaftsminister Heinz Faßmann über seinen Nachfolger.
Ist der Zeitraum von drei Jahren bei Universitäten gut gewählt?
[H. F.]: Wir hatten früher Zeiträume von einem Jahr, jetzt sind wir bei drei. Das halte ich für durchaus sinnvoll, das gibt den Universitäten eine gewisse zeitlich autonome Perspektive. Ab und zu muss natürlich auch das Ministerium als Vertreter des Steuerzahlers nachsehen, ob Ziele erreicht werden, gut gearbeitet wird, ob an den Schwerpunkten alles stimmt – diese Form des dialogischen Miteinanders zwischen Aufsichtsorgan, dem Ministerium und der Universität ist, glaube ich, gut gewählt.
Glauben Sie, dass das Geld, das Österreich für Wissenschaft und Forschung ausgibt, in seiner Gesamtheit gut und effizient genutzt wird?
[H. F.]: Erstens bin ich sehr, sehr froh, dass wir viel Geld für Wissenschaft und Forschung ausgeben; ich glaube, diesen Stolz können Sie mir nachsehen. Wir haben mit einer F&E-Quote von 3,2 % Gott sei Dank einen europäischen und globalen Spitzenwert erreicht, das ist wirklich erfreulich. Effizient – das ist ein sehr stark betriebswirtschaftlich orientierter Begriff. Wir fragen zumindest immer nach, wie etwa die Relation von Verwaltung zu Wissenschaft ist. Natürlich ist es mir wichtig, dass das Geld auch dort ankommt, wo es hinkommen soll, nämlich in die Forschung und die Lehre der Universitäten. Daher sind auch Zielindikatoren vorgesehen, etwa Betreuungsrelationen oder die eingeworbenen Drittmittel als Indikator, wie wettbewerbsfähig die Forschung einer Universität ist.
In einem Forbes-Interview wurde IST-Chef Thomas Henzinger gefragt, was er tun würde, wenn er Wissenschaftsminister wäre. Er hat gesagt, mehr Exzellenz- und Wettbewerbsförderung, etwa auch mehr Geld für den FWF. Glauben Sie, dass Österreich in der Frage des Wettbewerbs in der Wissenschaft ein Umdenken braucht?
[H. F.]: Erstens stimme ich zu: Wettbewerb ist sehr wichtig in der Wissenschaft, er ist so etwas wie eine Qualitätssicherung, denn nur die, die hervorragende Projekte bringen, kommen ins Ziel oder bekommen ihre Förderung. Wettbewerb ist wichtig. Wir haben Wettbewerbskomponenten eingebaut, auch in den Finanzierungssystemen der Universitäten. Dort gibt es Zusatzgelder, wenn erfolgreich Drittmittel eingeworben sind. Aber wir können nicht alles nur auf Wettbewerbsgelder aufbauen, denn eine Universität muss auch dann existieren, wenn sie vielleicht einige Jahre nicht so erfolgreich auf dem Drittmittelmarkt gewesen ist. Dahin gehend funktionieren Universitäten ein bisschen anders – sie haben auch eine Ausbildungsleistung zu bringen – als etwa das IST Austria.
Die ETH Zürich wirbt ein Drittel des Jahresbudgets über Drittmittel ein. Ist das etwas, das wir ein bisschen verschlafen in Österreich, etwas, das Universitäten besser angehen könnten?
[H. F.]: Wir gehen diese Entwicklung mit der Wettbewerbsorientierung über Drittmitteleinwerbung schon seit dem UG (Universitätsgesetz, Anm.) 2002, wo auch eine klare Regelung getroffen wurde, wie man Drittmittel vernünftig in ein universitäres System einbauen kann. Der Weg wurde in den letzten 15 Jahren vorgezeichnet, ich halte auch eine Drittelfinanzierung über Drittmittel für eine vernünftige Maßzahl. Wenn zu viele Drittmittel hereinkommen, baut man Personal auf und muss dann, um dieses aus Drittmitteln finanzierte Personal zu halten, den Drittmittelprojekten nachlaufen. Da muss man sich manchmal auch verbiegen, weil Calls oder bestimmte Töpfe nur für bestimmte thematische Fragestellungen geöffnet sind. Wissenschaft muss auch unabhängig bleiben; zu viele Drittmittel sind auch ungesund, genauso, wie wenn gar keine Drittmittel vorhanden sind.
Heinz Faßmann
wurde in Düsseldorf geboren und verbrachte seine Kindheit in Wien. Er begann 1975, Geografie und Wirtschafts- und Sozialgeschichte zu studieren und schloss das Studium 1980 mit dem Doktorat ab. Er arbeitete an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und wurde 1996 C4-Professor an der Technischen Universität München. 2000 kehrte er an seine Alma Mater zurück, wo er 2011 Vizerektor wurde. Von 2017 bis 2021 war er (in mehreren Regierungen und mit einer halbjährigen Unterbrechung durch die Übergangsregierung) Bildungs- und Wissenschaftsminister Österreichs.
Ist Wissenschaft ein öffentliches Gut, also etwas, das vom Staat zur Verfügung gestellt werden sollte?
[H. F.]: Ja, definitiv. Sie ist ein öffentliches Gut. Daher sind auch die nächsten logischen Schritte Open Science und Open Publications – das Wissen, das hier erarbeitet wird, sollte möglichst allen zugänglich gemacht werden. Daher sind auch die Maßnahmen, die von europäischer Seite kommen, etwa die European Open Science Cloud, von mir zu 100 % unterstützt, ich halte das für den richtigen Weg.
Wenn Sie sich ein Land auf der Welt aussuchen, wo Sie gute Wissenschaftspolitik sehen, was fällt Ihnen da ein?
[H. F.]: Ich denke, dass unser mitteleuropäisches System gut ist. Die USA haben eine riesengroße Varianz zwischen
den wirklich exzellenten Universitäten und den vielen schwachen Hochschulen. Das hohe Ausmaß an privater Finanzierung an den US-amerikanischen Universitäten führt auch zu einer gewissen Exklusivität. Hohe Studiengebühren sind prohibitiv und nicht das, was wir der Bildung zuschreiben – sie nämlich allen zur Verfügung zu stellen als Motor sozialer Mobilität.
Wenn man sich die Statistiken ansieht, bewegt sich Österreich im Global Innovation Index rund um den 20. Rang, in den Universitätsrankings ist die Universität Wien als beste des Landes rund um den 150. Platz weltweit zu finden. Sind diese Rankings überbewertet oder machen wir doch etwas nicht ganz so richtig?
[H. F.]: Man muss immer genau schauen, was in diesen Rankings als Einzelindikator steht – und ich mache das. In manchen Bereichen sind wir sehr gut, etwa im Forschungsbereich, und schwächer im Bereich Betreuungsrelation, weil wir eben einen offenen Hochschulzugang haben. Das verteidige ich aber auch und nehme in Kauf, einige Rangplätze schlechter gestellt zu werden. Und wir sind auch nicht ganz so exzellent in den Reputation Surveys, also in den Befragungen der Kolleg*innen, welche Universität sie für gut befinden. Dort werden meistens die guten Universitäten verstärkt. Das ist ein Matthäus-Effekt, die Starken werden eher noch gestärkt. Man sollte die Rankings nicht überbewerten. Ich kann Ihnen aber auch eine andere Argumentation liefern: Wir haben weltweit, genau ist das nicht bekannt, vielleicht rund 20.000 Universitäten. Wenn sich eine österreichische Universität auf dem Rangplatz 200 bewegt, dann ist sie immer noch im besten, obersten Prozent – das muss uns auch klar sein, wenn wir globale Perspektiven vor Augen haben.
Man kann Österreich bei den Ausgaben relativ wenig Vorwurf machen. Wenn aber die Rankings mit Vorsicht zu genießen sind, woran messen Sie den Erfolg Ihrer Arbeit? Wo sehen wir, ob Österreich gute Wissenschaftspolitik macht – und welchen Zeitraum muss man da beobachten?
[H. F.]: Der Zeitraum ist wichtig, denn man darf nie zu kurzfristig denken. Effekte, die vielleicht heute gesetzt werden, wirken sich in einem zehnjährigen Zeitraum aus. Das ist ein bisschen ein Dilemma.
Das heißt, Sie arbeiten für einen potenziellen Nachfolger oder eine potenzielle Nachfolgerin?
[H. F.]: Absolut. Der oder die soll dann auch sagen: Wichtige Schritte wurden damals schon gesetzt.