Ehsen Shahid/Unsplash, Jorge Fernández Salas/Unsplash

Akademische Erbhöfe

In den USA ist Bildung immer noch eine Frage des Geldes. Generationeller Reichtum und direkte Bevorzugung sorgen  dafür, dass manche dabei besser wegkommen als andere.

Text: tuw.media-Redaktion Foto: Ehsen Shahid/Unsplash, Jorge Fernández Salas/Unsplash

Penibel gepflegte Grünflächen, ­steinerne Säulen, breite Portale – wer über den Campus der New Yorker Columbia University läuft, soll sehen, dass hier Geist und Geld zusammentreffen. Ein einzelner Kurs an der Ivy-League-Hochschule kann 6000 US-$ pro Semester kosten. Ermäßigungen waren selbst in der Coronapandemie nicht drin – obwohl die 1754 gegründete Universität mehr als 13 Mrd. US-$ Vermögen besitzt. „Auch die ­Gebühren für all die Dinge, die wir nicht mehr machen konnten, blieben gleich; Bibliotheken, Sport, Gemeinschaftsräume“, erinnert sich Absolventin Arianna Bottome, die Nachhaltigkeitsmanagement studiert hat. Sie ist in­zwischen fertig und hat drei Studienkredite abzubezahlen, die sie kürzlich neu strukturiert hat. Das werde 30 Jahre dauern, sagt Bottome – mit einem guten Gehalt kann sie das vielleicht verkürzen.

Die Frage, ob sich die ­begehrte ­„Elite-Ausbildung“ an amerikanischen „Ivies“ individuell auszahlt, ist statistisch einfach zu beantworten. Laut dem Bundesbildungsministerium lag der Lohn eines Master-Absolventen 2020 am Anfang der Karriere im Mittel bei 69.000 US-$ brutto im Jahr. Wer einen Abschluss einer Universität wie Harvard, Columbia oder Yale hatte, verdiente bis zu 20.000 US-$ im Jahr mehr. Die gesellschaftlichen Kosten des Systems sind allerdings nach wie vor hoch. So ist es keine Seltenheit, mit mehreren 10.000 US-$ Studienkosten verschuldet zu sein. Für viele geht die Belastung nach dem Abschluss (oder Abbruch) in den sechsstelligen Bereich. Mit 1,75 Billionen US-$ ist die Verschuldung durch Studiengebühren beim Staat und bei privaten Banken auf einem Rekordhoch: 44 Millionen Amerikaner*innen zahlen Kredite fürs Studium ab. Diese kann man im Unterschied zu anderen Darlehen meist nicht durch eine Privatinsolvenz loswerden.

Durch die Pandemie verschlimmerte sich die Situation an vielen amerikanischen Hochschulen noch. Laut der Unter­nehmensberatung McKinsey unterbrachen eine halbe Million Studierende bis Herbst 2020 ihr College­studium. Wie viele davon nicht zurückkehren werden, ist unklar. Die meisten Abbrecher*innen hatten ihre Nebenjobs verloren oder verließen die Hochschule, um ihre Familien zu unterstützen. Viele konnten sich die Kosten einfach nicht mehr leisten. Präsident Joe Biden ­l­egte zumindest die Kreditrückzahlungen seit 2020 erst einmal auf Eis und fror die Zinsen per präsidialer Anordnung ein. Im Sommer soll das ­Moratorium nun endgültig auslaufen, erst dann dürften die Effekte der Krise voll zum Tragen kommen. Die Republikaner*innen wollen Bidens eigentlich geplanten Schuldenerlass – in der Höhe von 20.000 US-$ pro Person – gerichtlich verhindern.

Afroamerikaner*innen leiden ­besonders
Die Belastungen sind von Anfang an ungleich verteilt. Jalil Bishop erforscht an der Villanova University in Pennsylvania die Ungleichheiten zwischen weißen und schwarzen Kredit­nehmer*innen. „Schwarze nehmen höhere Studienkredite auf. Das tun sie oft, um Hochschulen mit schlechteren Ressourcen zu besuchen. Mit diesem Rückstand treten sie dann in einen Arbeitsmarkt ein, der sie his­torisch und gegenwärtig diskriminiert, unabhängig davon, ob sie ihren Abschluss gemacht haben“, sagt er. Laut der ­Federal Reserve Bank haben Schwarze ungefähr doppelt so hohe Studien­kredite wie Weiße. Sie brauchen auch länger für die Rückzahlung. Eine ­Studie der Brandeis University zeigte 2019, dass der/die durchschnittliche weiße Studien­schuldner*in 20 Jahre nach dem College noch 6 % des Darlehens oder 1000 US-$ ­abbezahlt, ein/e schwarze/r aber 95 % oder 18.500 US-$. Durch die Zinsen sind die Kredite teurer. ­Afro­amerikaner*innen fehlt ­häufig das Fa­milienvermögen, das viele ­Weiße nutzen ­können. Laut ­Soziolog*innen ­haben sie nach dem ­Hochschulabschluss ­zudem ­geringere Löhne, unterstützen  je­doch häufiger mehrere Familienmitglieder finanziell.

Die Kosten hindern viele Menschen daran, das College oder die weiter­führende Universität („Graduate School“) überhaupt abzuschließen. Damit sind die Darlehen für manche eine ver­lorene Investition. Die Ab­brecher*innenquote für College-Studierende vor dem ersten Abschluss liegt in den Vereinigten Staaten laut dem National Center for Education Statistics bei 40 %. In einem OECD-Vergleich der ­Absolvent*innenraten von 28 Staaten kommt das Land auf Platz 19. Bereits vor der Pande­mie war die Ungleichheit besonders sichtbar an der hohen Zahl obdachloser Studierender. Die größte entsprechende Erhebung veröffentlichte 2019 die City University in New York (CUNY): Demnach waren 17 % der landesweit befragten Studierenden im Vorjahr obdachlos gewesen. Von einer prekären Wohnsituation sprachen 56 % und 45 % sagten, in den ver­gangenen 30 Tagen nicht genug zu essen gehabt zu haben.

Die jahrzehntelang anhaltende  Un­gleichheitskrise an den Hochschulen sei vermeidbar gewesen, sagt Er­ziehungswissenschaftler Bishop. Bis Ende der 1960er-Jahre gab es an staatlichen Universitäten keine Gebühren oder sie waren sehr niedrig. Bei den Zulassungen wurden allerdings Weiße und Männer bevorzugt. Die Protestbewegungen der 1960er-Jahre veränderten das: Hochschulen wie die City University of New York ließen viel mehr Erstsemestrige zu, die nicht weiß waren. An den Universitäten lehnten sich Studierende gegen Rassismus, ­soziale Ungleichheit und den Vietnamkrieg auf. Ronald Reagan, damals Gouverneur von Kalifornien, schlug schließlich vor, an der University of California (USC) Gebühren einzuführen. Der spätere republikanische Präsident verschwieg nicht, dass es ihm um den Erhalt der politischen Machtverhältnisse ging. Man müsse „die Unerwünschten“ aussieben, sagte er laut der Los Angeles Times 1967. Wer „zum Agitieren und nicht zum Studieren“ an der Uni sei, werde „dann überlegen, wie viel sie bezahlen wollen, um ein Protestschild hochzuhalten“. Reagan konnte sich zunächst nicht durchsetzen, aber die Privatisierung des Hochschul­systems schritt voran. Im Jahr 2010 lag die jährliche Gebühr an den öffentlichen Hochschulen im USC-System schon bei um die 10.000 US-$.

Ist „Affirmative Action“ die Lösung?
Viele Hochschulen versuchen, dem Problem der Ungleichheit mit „positiver Diskriminierung“ beizukommen. Die Möglichkeit, Angehörige benachteiligter Gruppen bevorzugt zum Studium zuzulassen, wurde aber in den letzten Jahren immer mehr eingeschränkt. Das liegt an mehrheitlich konservativ besetzten Gerichten. In diesem Jahr soll der Supreme Court erneut darüber entscheiden, ob Strategien der besonderen Förderung verfassungsgemäß sind. In den vergangenen Jahrzehnten schränkten die Richter*innen sie bereits massiv ein. So sind zahlenmäßige Quoten für Minderheiten seit 2003 ausdrücklich verboten, „Zielvorgaben“ im weitesten Sinne aber erlaubt. Eine Hochschule kann zum Beispiel festlegen, dass sie die tatsächliche Zusammen­setzung ihrer Region besser widerspiegeln wolle. Es ist auch erlaubt, das Ziel zu formulieren, Frauen nicht zu benachteiligen oder mehr Studierende aus einkommensschwachen Familien anzuwerben. Dazu können Colleges zum Beispiel Stipendienprogramme auflegen. Der soziale Hintergrund und die Herkunft der Bewerber*innen dürfen auch bei Interviews einbezogen werden, nur eben nicht im Sinne fester Quoten. Staatliche Hochschulen in Kalifornien oder Texas wollen das Problem lösen, indem sie den besten zehn Prozent der Absolvent*innen aus allen Schulen einen Platz zusagen. Ohne Gruppenquoten sollen so auch Kandidat*innen aus High­schools in strukturell benachteiligten Gegenden Chancen haben.

Die Republikaner*innen wollen ihre komfor­table Richter*innen-Mehrheit am ­Supreme Court nun nutzen, jegliche Affirmative Action für illegal zu erklären. Die obersten Richter*innen werden über zwei Fälle entscheiden, die die Universitäten Harvard und North Caro­lina betreffen. Beide Klagen kommen von der Lobbyorganisation Students for Fair Admissions. Ihr Vorwurf an Harvard ist, dass gemessen an ihren Leistungen zu wenige asiatisch-­amerikanische Studienbewerber*innen immatrikuliert würden und dass die Universität diese Gruppe so diskriminiere. Die Hochschulleitung weist das zurück und betont, dass die Zusammensetzung der Studierendenschaft heute aus­gewogener und fairer sei als je zuvor.

Besonders die Ivy-League-Hochschulen stehen dabei immer wieder in der Kritik, weil sie eine andere Form von Bevorzugung verteidigen: Kinder von Professor*innen, Spender*innen und ehemaligen Student*innen können nämlich per „Legacy Admission“ bevorzugt werden. Sie erhalten leichter einen Studienplatz und oft auch einen Gebührenerlass. Laut der New York Times bevorteilt etwa die Hälfte ­aller Hochschulen diese sogenannten „Legacies“. In Harvard etwa, so analy­sierte 2019 das National Bureau of Economic Research, seien mehr als 43 % der weißen Studierenden „ALDC“-Kandidat*innen. Die Abkürzung steht für Leistungssportler*innen (Athletes), „Legacies“, Kinder von Angestellten und solche, die auf einer „Dean’s Inte­rest“-Liste stehen. Darauf landen Bewerber*innen, an denen Führungskräfte der Hochschule ein „besonderes Interesse“ erklären – zum Beispiel, weil ihre Eltern einem Institut Geld spenden. Laut dem Bericht seien im Vergleich nur 16 Prozent nicht weißer Gruppen ALDC-Student*innen. ­Schätzungen gehen davon aus, dass der bundesweite Durchschnittsanteil an Legacy Admissions zwischen zehn und 15 % liegt. Laut der Zeitung The Guardian haben „Legacy-Bewerber*innen“ etwa an der Universi­tät Princeton eine vierfach erhöhte Chance auf Erfolg; die Hochschulen Notre Dame und Georgetown hätten doppelt so hohe Zulassungs­quoten für diese Studierenden. Der Linguist John McWhorter, der sonst vor allem linke Politik kritisiert, schrieb in der New York Times: „Legacy Admissions sind mehr oder weniger Affirmative ­Action für weiße Kinder.“ Immer mehr Hochschulen wie das Massachusetts Institute of Tech­nology (MIT) oder die Universi­tät Berkeley schaffen die ­Praxis daher ab. Bundesweite politische Initia­tiven scheitern aber immer wieder – Familien von Anhänger*innen beider Parteien, also Demokrat*innen und Republikaner*innen, profitieren schließlich von den akademischen „Erbhöfen“ in Yale, Harvard und anderswo.

Text: Frauke Steffens