VOM LEBEN IN ZWEI WELTEN

Valerie Hengl möchte in ihrem Job einen Beitrag für eine bessere Welt leisten. Das tut die 28-jährige gebürtige Weinviertlerin bereits als Mitbegründerin des Start-ups Purency – nach dem Motto „Abwechslung tut gut“ arbeitet sie seit nunmehr bald drei Jahren auch als Chairwoman beim Forum Alpbach. Eine spannende Reise durch ein bewegtes Leben in zwei Welten.

Text: tuw.media-Redaktion

Auch im 21. Jahrhundert ist es landläufige Meinung, dass Technik und Mädchen nicht zusammenpassen. Viel zu wenig wird diese Kombination von Eltern und Lehrkräften gefördert – diese Ansicht wird auch immer ­wieder durch Studien belegt, zum Beispiel von Statistik ­Austria im Jahr 2019 (Frauenanteil Studien Fachrichtung Technik 26,6 %). Auch Valerie Hengl musste das kürzlich beim zehnjährigen Maturatreffen feststellen: Sie ist die einzige ehemalige Schülerin, die sich für eine Ausbildung und einen Beruf im technischen Bereich entschieden hat; das aber über Umwege.

Nach der Schule folgte ein International-Business-Studium in Holland, dann ein Erasmus-Auslands­semester in Madrid. Den Anstoß, sich in Richtung Umwelt und Technologie fortzubilden und zu ­forschen, gab ein Praktikum über die United Nations Industrial ­Development Organization (Unido), das Hengl bis nach Bogotá führte. Danach folgte ein dreimonatiger Aufenthalt in Mexiko, wo sie ihre bisher gelernten Erfahrungen in Umweltprojekten als Mitarbeiterin der Österreichischen Wirtschaftskammer einbringen konnte. Wer jemals in Südamerika gewesen sei, der wisse, dass es dort sehr viele dringliche Umwelt­probleme gebe, sagt Hengl. „Danach war mir klar, dass mein Fokus auf Umwelt und Technologie zur Lösung der Probleme liegen würde.“

Zurück in Österreich wurde sie auf das Masterprogramm Environmental Technology & International Affairs (ETIA) der Academy for Continuing Education aufmerksam; laut Hengl „die perfekte Mischung“, eine Masterausbildung aus teils sehr detaillierten technischen und umweltrelevanten Themen. Im Zuge der Weiterbildung merkte sie erst, wie mühsam es ist, im Bereich internationale Beziehungen und Umwelt weiterzukommen. Sie will anpacken und die Welt ein Stück besser und lebenswerter machen – damals fiel ihre Wahl auf den Bereich Projektmanagement, um zukünftige Projekte besser und strukturierter in Angriff nehmen zu können. Dafür heuerte sie für knapp zwei Jahre bei einer Unternehmensberatung an. Eine neue berufliche Herausforderung fand Hengl danach mit Michael Stibi, einem Co-Founder des Start-ups Purency. Ihn lernte sie durch eine gemeinsame Freundin kennen.

Von der Idee zum Start-up
Im Rahmen seines PhDs an der TU Wien in Verfahrenstechnik beschäftigte sich einer der Purency-Gründer, Benedikt Hufnagl, mit dem Thema Mikroplastik und dessen Analyse und merkte, dass es dafür einen Markt gibt. Gemeinsam mit Co-Founder Michael Stibi holte er sich Unterstützung bei der Gründung des Start-ups im TU-Wien-Inkubator i2c . Je weiter die Entwicklung des Start-ups fortschritt, desto offensichtlicher wurde, dass noch Personal benötigt würde. Purency wollte sich gerne divers aufstellen, also kamen Valerie Hengl und Aurelia Liechtenstein an Bord, wobei Liechtenstein für den Bereich Sales zuständig ist und Valerie Hengl die Organisation überhat. Benedikt Hufnagl ist der CTO des Unternehmens, ­Michael Stibi beschäftigt sich mit dem Thema Business Development und Investments. Mittlerweile hat das vierköpfige Gründerteam Unterstützung von drei Mitarbeiter*innen, auch Investoren sind bereits mit an Bord. Gearbeitet wird ausschließlich remote, da ein europaweites Netzwerk entstehen soll und man von der Expertise über die Grenzen hinaus profitieren will.

Die Idee des Start-ups ist es, mittels Software Labor­proben zu analysieren und so Mikroplastik aufzuspüren und sichtbar zu machen, wo überall Mikroplastik enthalten ist. Zu den analysierten Flüssig­keiten gehören Klärschlamm oder Meerwasser, aber auch Blut und sogar Lebensmittel. Grundsätzlich unterscheidet man zwischen primärem Mikroplastik, also Mikroplastik, das beispielsweise Kosmetik­produkten absichtlich untergemischt wird, und sekundärem Mikroplastik, das zum Beispiel durch die Zersetzung einer im Meer schwimmenden Plastikflasche in den Wasserkreislauf gelangt.

Für Hengl sind die Ergebnisse der Analysen auch nach zwei Jahren oft noch überraschend. So sind nicht Kosmetikprodukte, wie viele glauben, die Hauptverantwortlichen für die Mikroplastikpartikel in Flüssig­keiten, sondern der Abrieb von Autoreifen. Über die Luft und durch Regen sowie über Grundwasser gelangen die winzigen Partikel in unsere Nahrung und unseren Körper. Sogar in einer Plazenta konnte Mikroplastik bereits nachgewiesen werden. Man geht mittlerweile davon aus, dass Menschen in der westlichen Welt pro Woche Mikroplastikpartikel vom Gewicht einer Kreditkarte zu sich nehmen. Vieles davon wird wieder ausgeschieden, aber eben nicht alles. Was mit den in unserem Körper verbleibenden Mikroplastikpartikeln geschieht und ob diese gar auf lange Sicht gesundheitsschädlich sind, ist bis dato noch nicht erforscht.

Denn die Forschung dazu steckt noch in den Kinder­schuhen, bisher ist es nur möglich, nachzuweisen, wo die Mikroplastikpartikel enthalten sind. Es fehlen jedoch noch Langzeitstudien, um die genaue Auswirkung auf die Menschen und die Natur aufzu­zeigen. Diese Studien sind jedoch sowohl zeit- als auch kosten­intensiv. Weiters gibt es derzeit weder etablierte Messmethoden noch Standards für die Auswertung. Langsam, aber sicher kommt in diesem Bereich etwas ins Rollen: Regulierungen springen an, die UN hat die „Plastic Pollution Resolution“ herausgegeben, die dafür sorgen soll, dass künftig weltweit verbindliche Rechtsgrundlagen für die Herstellung, Verwertung und Entsorgung von Kunststoffen gelten. Zusätzlich wirkt Purency aktiv bei der Standardisierung in der ISO und bei Austrian Standards mit.

Kunden von Purency sind Labore, Umweltbundesämter und andere Institutionen und Firmen, die Mikroplastik analysieren wollen. Da Mikroplastik durch seine Verteilung über die Atmosphäre und Regen oder Gewässer zum globalen Problem geworden ist, gibt es Kunden auf der ganzen Welt.

Um Mikroplastik nachzuweisen, wurden bisher unterschiedliche Ansätze verfolgt. Einer davon ist die FTIR-Spektrometrie (Fourier-Transform-Infrarot-Spektrometrie). Dabei wird die Probe mit elektro­magnetischer Strahlung im Infrarotbereich beleuchtet. Allerdings verwendet man nicht wie bei vielen anderen Spektrometern immer nur eine bestimmte Wellenlänge, sondern viele Wellenlängen gleichzeitig. Diese Wellen überlagern sich auf komplexe Art miteinander; die daraus resultierenden Wellen werden gemessen und ergeben einen charakteristischen „Finger­abdruck“ der untersuchten Probe, das sogenannte Spektrum. Dieses kann von geschulten analytischen Chemiker*innen charakterisiert und einem Material zugeordnet werden. Sie erhalten so eine Übersicht, welche Stoffe in der Probe enthalten sind. Beim Anwendungsbeispiel der Mikroplastikanalyse müssen in mehreren Millionen Spektren die Polymerspektren gefunden werden, die einen Partikel als Mikroplastik identifizieren. Die Herausforderung ist, die enormen Mengen an gewonnenen Daten zu analysieren.

Bislang wurden hier vor allem datenbankbasierte Ansätze verwendet, bei denen das vermessene Spek­trum mit Referenzspektren abgeglichen wird; ein Prozess, der meist mehrere Stunden braucht und Ergebnisse von fragwürdiger Qualität und Vergleichbarkeit liefert. Hier setzt Purency mit seiner Lösung an: Durch die Automatisierung mittels Machine Learning muss bei der Analyse kein Kompromiss zwischen Geschwindigkeit und Qualität eingegangen werden. Größe, Art und Anzahl der Mikroplastikpartikel können innerhalb von wenigen Minuten identifiziert werden. Dabei ­können die Machine-Learning-Modelle eine breitere Anwendbarkeit (Polymerarten, Probenarten/Matrices, Matrixeffekte …) erzielen, ohne dass manuell eingegriffen werden muss – ein wichtiger Schritt, um die Mikroplastikanalyse robust, skalierbar und vergleichbar zu machen. Dadurch können fundierte Aussagen zu Vorkommen und Herkunft von Mikroplastik getroffen werden und eine Basis für Handlungsempfehlungen oder Initiativen entsteht.

Zusätzlich arbeitet Purency aktiv an der Standardisierung für die Messung und Auswertung zu Mikroplastik mit. Nur so wird es möglich werden, einzelne Messergebnisse miteinander zu vergleichen und konkrete Maßnahmen daraus abzuleiten. „Derzeit werten unterschiedliche Labore verschieden aus. Die einzige Aussage, die aufgrund dieser Auswertung getroffen werden kann, ist, dass Mikroplastikpartikel in einer Probe enthalten sind oder eben nicht. Da steht dann am Ende sozusagen Wort gegen Wort und ein Vergleich der Proben ist nicht möglich beziehungsweise sinnvoll“, betont Hengl die Dringlichkeit für einen Standard für Messung und Auswertung.

Mit ihrem Start-up Purency schafften es die Gründer*innen neben der „TUW Under 30“-Liste 2021 auch auf die „Under 30“-Liste der deutschsprachigen Ausgabe von Forbes.

Das zweite Leben
Schon bevor Hengl bei Purency startete, zeigten die Zeichen bei ihr auf die ganz großen Themen, die die Menschheit beschäftigen. 2017 war sie als Stipendiatin im Rahmen ihres Masterstudiums drei Wochen beim Europäischen Forum Alpbach dabei – bei dieser gemeinnützigen Stiftungsveranstaltung kommen seit 1945 einmal im Jahr im August in Alpbach Referent*innen und Teilnehmer*innen aus Wissenschaft, Wirtschaft, Politik, Kunst und Kultur aus der ganzen Welt zusammen, um Fragen der Zeit zu diskutieren und interdisziplinäre Lösungsansätze zu finden; für Hengl eine inspirierende und bewegende Erfahrung, wie sie heute sagt. Zuerst habe sie sich neben all den anderen Stipendiat*innen, Sprecher*innen und Politiker*innen klein und unwichtig gefühlt, erzählt sie erfrischend ehrlich, und bewunderte die Projekte, die andere Teilnehmer*innen vorstellten. Doch in Kamingesprächen mit den Politiker*innen realisierte sie, „dass das eigentlich auch ganz normale Menschen sind, die Hobbys haben, die Macken haben, die unsicher sind. Da wurde mir das erste Mal so richtig bewusst, dass auch ich etwas bewegen und etwas Außergewöhnliches erreichen kann, wenn ich passioniert und motiviert bin und daran arbeite.“

Nach dieser Erfahrung blieb Hengl beim Club Alpbach Niederösterreich aktiv und bewarb sich schließlich für die Position „Chairwoman des Forum Alpbach Netzwerks“, sozusagen als Jugendsprecherin des Forums. Sie bekam den Job 2019 und blieb drei Jahre. In dieser Rolle vertrat sie in den Gremien­sitzungen die 32 regionalen Alumni-Clubs (neun davon gibt es in Österreich, weitere auch etwa in Deutschland, Belgien, Bosnien, Mazedonien und anderen europäischen Ländern) und deren Anliegen mit dem Ziel, die Ideen und Anliegen des Forums Alpbach auch unter dem Jahr weiterzutragen. Durch regelmäßige Veranstaltungen in den einzelnen Regionen zu Themen wie Demokratiebildung soll daraus ein „junges, buntes, innovatives Netzwerk, das für Europa gemeinsam einsteht, entstehen“, fasst Hengl zusammen. Die Arbeit im jungen, motivierten Team bereitet ihr viel Spaß, erfolgt aber auf freiwilliger Basis. „Damals wusste ich nicht, dass ich knapp sechs Monate später bei einem Start-up beginnen werde“, erzählt sie lächelnd, aber sie bereut die Entscheidung, für das Forum Alpbach als Chairwoman tätig zu sein, keinesfalls. „Es ist immer wieder spannend und äußerst bereichernd, Zeit mit jungen Leuten aus aller Welt zu verbringen. Alle sind motiviert und möchten gemeinsam etwas bewegen und in der Welt verändern. Diese Erfahrungen geben mir dann auch immer viel Energie zurück und zeigen mir, dass es sich lohnt, dass ich mich hier engagiere“, resümiert Hengl. Die Pandemie hat unterschiedliche Länder einander nähergebracht und macht vieles möglich, was davor undenkbar gewesen wäre, zum Beispiel den recht einfachen Austausch mit Gleichgesinnten aus aller Welt oder die ­länderübergreifende Zusammenarbeit für Purency. „Wir haben auch Kunden in Asien. Da kann man nicht schnell einmal Mitarbeiter*innen vorbeischicken. Außerdem wäre es nicht möglich, ­diese beiden Welten – Purency und ­Forum Alpbach – so einfach miteinander zu verbinden“, führt Hengl abschließend an. In beiden Welten ist viel Einsatz gefragt, Termin drängt sich an Termin, es braucht viel Organisation und Koordination. „Da kam mir die Verlagerung von Präsenzbesprechungen auf Online­meetings entgegen. Ich schätze außerdem die Flexibilität, die ich als Selbstständige bei Purency habe“, so Hengl.

Meine Generation will intrinsisch motiviert werden.

Valerie Hengl, Mitgründerin, Purency.ai

Valerie Hengl privat
Bleibt bei so viel Engagement überhaupt noch Zeit für Freizeitaktivitäten oder Hobbys? Ja, sagt Hengl. Nach den vielen Stunden vor dem Laptop, sei es für Purency oder Forum Alpbach, sucht sie gerne den Ausgleich in der Natur beim Wandern oder Klettern am Berg, beim Skifahren oder Radfahren, am liebsten gemeinsam mit Freund*innen. Auch beim Reisen und Kochen kann Hengl gut abschalten.

Für die Zukunft wünscht sie sich, mit Purency auch Erfolg bei der Datenanalyse von anderen Partikeln zu haben und so der Spezialist für datenge­steuerte Lösungen zur Entscheidungsfindung für ­Chemiker*innen und Labore zu werden. Persönlich will sie sich und ihrem Credo treu bleiben, die Welt mit ihren Taten besser zu machen. Hengl will sich nach wie vor regelmäßig für soziale Projekte engagieren. Mit Ende 20 ist es auch das erste Mal in ihrem Leben, dass der Weg nicht mehr vorgegeben ist – die großen Meilensteine wie der Abschluss von Schule und Studium liegen bereits hinter ihr. Ihre Vision ist es, immer eine berufliche Herausforderung zu finden, die ihr Spaß macht, aber auch die Welt ein kleines Stück besser machen kann.

Fotos: TU Wien, NASA