Subrahmanyan Chandrasekhar hatte gut zwei Wochen Zeit – so lange dauerte im Jahr 1930 die Schiffsreise von Madras in Indien nach England, wo der junge Astrophysiker sein Studium an der Universität Cambridge fortsetzen wollte.
Anstatt sich einfach an Bord zu entspannen, nutzte Chandrasekhar diese Zeit, um über die Physik der Sterne nachzudenken. Mit neunzehn Jahren war er noch ein Teenager, aber während dieser Schiffsreise schrieb er Wissenschaftsgeschichte: Er berechnete die sogenannte Chandrasekhar-Grenze, die Maximalgröße, die ein alternder Stern als sogenannter weißer Zwerg erreichen kann – ein wichtiges Ergebnis, das den jungen Forscher schließlich weltberühmt machte.
War Chandrasekhar mit seinem jungen Alter eine große Ausnahme? Wenn man Schulbücher durchblättert und sich ansieht, welche berühmten Persönlichkeiten dort abgebildet sind, könnte man diesen Eindruck bekommen. Meistens findet man dort Schwarz-Weiß-Bilder von alten Männern: Albert Einstein mit seiner Strubbelfrisur, Charles Darwin mit seinem Rauschebart, Isaac Newton mit Lockenperücke. Das ist kein realistisches Bild davon, von welchen Leuten Forschung tatsächlich gemacht wird – längst ist die Wissenschaft viel bunter.
Vielleicht kommt das Klischeebild vom alternden Wissenschaftler daher, dass zwischen der wissenschaftlichen Leistung und dem daraus resultierenden Ruhm oft recht viel Zeit vergeht: Nobelpreise wurden zu Beginn des 20. Jahrhunderts meist schon wenige Jahre nach einer wichtigen Entdeckung vergeben, heute ist es ganz normal, dass Nobelpreise für Leistungen vergeben werden, die über 20 Jahre zurückliegen. Peter Higgs war 35, als er seine Idee vom Higgs-Teilchen publizierte – als er den Nobelpreis bekam, war er 84. Auch Subrahmanyan Chandrasekhar wurde für seine astrophysikalischen Erkenntnisse mit einem Nobelpreis ausgezeichnet – im Alter von 73 Jahren.
Florian Aigner ist Physiker, Autor
und Wissenschaftspublizist. An der TU Wien bildet er als Wissenschaftsredakteur die Schnittstelle zwischen Forschung und Wissenschaftsjournalist*innen. 2021 wurde Aigner der Kardinal-Innitzer-Preis verliehen.
Wie immer ist die Realität auch hier differenzierter. Gerade wenn sich eine wissenschaftliche Disziplin im Umbruch befindet, wenn man mit etwas Mut alte Gedanken über Bord werfen und neue Ideen erarbeiten muss, ist es oft die junge Generation, die für Innovationen sorgt. Albert Einstein war erst Mitte zwanzig, als er die Physik revolutionierte – im Jahr 1905 veröffentlichte er gleich vier Arbeiten, von denen jede einzelne wohl gereicht hätte, um ihn berühmt zu machen. Eine davon war seine spezielle Relativitätstheorie; und daneben stellte er in diesem Jahr auch noch seine Dissertation fertig.
Im selben Alter fand Werner Heisenberg eine mathematische Methode, die Quantenphysik zu beschreiben; Marie Curie war um die dreißig, als sie ihre bahnbrechenden Entdeckungen machte. Der jüngste Nobelpreisträger in einer naturwissenschaftlichen Kategorie war Lawrence Bragg – mit 25 Jahren. Er bekam den Preis gemeinsam mit seinem Vater William Henry Bragg. Die beiden hatten es gemeinsam geschafft, die Struktur von Kristallen mithilfe von Röntgenstrahlen zu untersuchen.
Die Geschichte von Vater und Sohn Bragg legt nahe: Manchmal ist es das Zusammenspiel aus Alt und Jung, das den Erfolg bringt. Nicht nur unkonventionelles Querdenken ist in der Wissenschaft gefragt, sondern manchmal eben auch Erfahrung und Überblick – und das erreicht man eben oft erst in höherem Alter.
Die Intelligenzforschung scheint das zu bestätigen: Man unterscheidet zwischen „kristalliner“ und „fluider Intelligenz“. Die fluide Intelligenz ist das, was bei einem gewöhnlichen IQ-Test gemessen wird, dabei geht es oft um Mustererkennung und Problemlösung. Diese Form der Intelligenz ist tatsächlich in jungen Jahren am höchsten und nimmt dann mit dem Alter wieder ab.
Kristalline Intelligenz hingegen hängt von erlernten Fähigkeiten, von Wissen und Erfahrung ab – dazu gehören etwa die Zahl der Wörter, die man in einer Fremdsprache kennt, oder auch bestimmte Analogien und Gedankentricks, die man auf unterschiedliche Situationen anwenden kann.
Das zeigt: Klischeebilder helfen uns nicht weiter – weder das Klischeebild vom alten weißen Mann, der in einer verstaubten Bücherstube seine Kreidetafel mit Wissenschaft vollschreibt, noch das Klischeebild vom genialen jungen Revolutionär, der sich gegen das verkorkste Establishment auflehnt. Wissenschaft wird von Männern und Frauen produziert, von Menschen aus allen Teilen der Welt, von älteren und jüngeren Leuten. Und das ist auch gut so.
Text: Florian Aigner