Es war ein klarer Spätsommertag im September 1964. Der junge Mathematiker Roger Penrose spazierte mit einem Kollegen durch den Londoner Stadtteil Bloomsbury, zu seinem Büro
am Birkbeck College. Wie es Wissenschaftler*innen so an sich haben, waren sie schnell
in ein intensives, weitreichendes Gespräch vertieft. Sie plauderten über Kosmologie und die Wunder von Sonne, Mond und Sternen.
Die Männer mussten eine Straße queren, sie machten auf der Bordsteinkante halt, suchten nach einer Lücke im Verkehr – und verstummten plötzlich. Es war dieser Augenblick der Ruhe, der alles veränderte. Penrose riss das Tor zu einer neuen Welt auf; zu einem Territorium, das noch kein anderer menschlicher Geist erkundet hatte.
Seine Gedanken reisten 2,5 Milliarden Lichtjahre durch das Vakuum des Weltraums, zur brodelnden Masse eines Quasars, zum Kern einer fernen Galaxie. Dort hatte ein Gravitationskollaps die Macht übernommen, und die Galaxie wurde immer tiefer und näher an ihr Zentrum gezogen. Die Masse drehte sich dabei immer rasanter, je weiter sie in sich sank – wie eine wirbelnde Eiskunstläuferin, die ihre Arme dichter an ihren Körper zieht und dabei immer schneller wird. Es war ein kleiner Moment in Penroses Alltag. Es wurde ein großer Moment für die Menschheit.
Denn der Geistesblitz war der Urknall zu einer neuen, bahnbrechenden Theorie. Es sei diese unerwartete und kurze Tagträumerei gewesen, sagte Penrose später, die ihm 56 Jahre später den Nobelpreis für Physik brachte. Der Geistesblitz an der Bordsteinkante inspirierte den Forscher zu dem empirischen Beweis, dass schwarze Löcher eben doch existieren. Penrose entwickelte Albert Einsteins allgemeine Relativitätstheorie weiter und formulierte aus ihr die Singularität, jenen Punkt, an dem Raum und Zeit nicht mehr definierbar sind.
Im August feiert Roger Penrose seinen 91. Geburtstag. Dass er erst kürzlich mit dem wichtigsten Preis der Wissenschaft ausgezeichnet wurde, ist eine Ehre, die überfällig war. Der sanfte Zahlenmensch mit den neugierigen Augen und den stets etwas zu großen Tweed-Jacketts hatte natürlich auch für dieses schwer zu begreifende Phänomen eine gute Theorie: „Es hat einfach lange gedauert, bis schwarze Löcher von der Astrophysik und Kosmologie ernst genommen wurden. Sie können ziemlich langweilig sein, ja, aus endloser Langeweile bestehen – aber was könnte außergewöhnlicher sein als genau das?“, so Penrose.
Vielleicht, weil er das Nichts besser verstand als jeder andere (nicht mal Einstein gelang der Beweis), konnte er das Etwas erklären – und damit den Anfang aller Dinge. Einsteins Erbe: Wenn jemand diesen Titel verdient, dann Sir Roger.
Schon Ende der 60er-Jahre leistete er Pionierarbeit in der theoretischen Mathematik und der Kosmologie. Der Stern seines Freundes Stephen Hawking strahlte am medialen Himmel stets heller – doch das hat den bescheidenen Penrose nie gestört. Zusammen mit Hawking zeigte er, dass auch der gesamte Kosmos eine Singularität besitzt – einen Urknall.
Woher wir kommen, wohin wir gehen – Penrose, der sich als Atheist bezeichnet, hat eine Antwort auf die Urfragen unseres Daseins gegeben, oder zumindest jenen Teil der Antwort, der sich berechnen lässt.
Wie Hawking (der übrigens keinen Nobelpreis erhielt) hat sich Penrose nie in den Elfenbeinturm der Wissenschaft zurückgezogen. Er schrieb fünf populäre Sachbücher – darunter ein Tausend-Seiten-Werk zum Universum –, die Bestseller wurden, trotz ihres nicht gerade massentauglichen Inhalts.
Penrose wuchs in einem Haushalt der Superhirne auf. Sein Vater war Genetiker, seine Mutter Ärztin; sein Bruder machte als Statistikprofessor und Schachmeister Karriere, seine Schwester als Genetikerin in der Krebsforschung. In dieser Familie galt das Lesen eines Romans als allzu leichte Unterhaltung – stattdessen bastelte man Polyeder und philosophierte über die geometrische Schönheit dieser dreidimensionalen Körper.
Über seinen Vater sagte Penrose einmal: „Er war nicht allzu gut darin, auf einer emotionalen Ebene einen Draht zu uns zu finden – es ging immer um Wissenschaft und Mathematik –, aber er hatte einen enormen Einfluss auf mich.“ Dass Penrose nicht Mediziner werden wollte wie Eltern und Geschwister, sondern sich seiner „großen Liebe“, der Mathematik, verschrieb, sorgte für Ärger. „Damals tobten meine Eltern. Inzwischen wären sie wohl recht angetan“, erzählte der Vater von drei Kindern einmal.
Nach Stationen in Cambridge, am Birkbeck College, in Princeton und an etlichen anderen Top-Unis leitete Penrose von 1973 bis zu seiner Emeritierung 1998 den Rouse-Ball-Lehrstuhl für Mathematik an der Universität Oxford; 1994 schlug ihn die Queen zum Ritter. Penrose befasst sich auch mit Logik, Geometrie und den Grenzen künstlicher Intelligenz („Wir werden niemals Computern ein Bewusstsein geben“). Neben der Entdeckung der Singularität gelang ihm die bahnbrechende Twistor-Theorie, die mathematische Eigenschaften der Relativitätstheorie und der Quantenmechanik zusammenführt.
Selbst das vergleichsweise recht profan wirkende Handwerk des Fliesenlegers veränderte er für immer. In den 70er-Jahren schuf er ein faszinierendes Muster, das als Penrose-Parkettierung bekannt wurde: Zwei identische Kacheln füllen eine Fläche ohne Löcher und Überlappungen – und ohne dass sich das Muster jemals wiederholt. Inspiriert hatten ihn islamische Mosaike aus einem Buch, in dem er schon als Kind geblättert hatte.
Später wagte es ein Toilettenpapierhersteller, das Muster auf seine Produkte zu stanzen, was Penrose zu einer Klage wegen des Missbrauchs wissenschaftlicher Ideen veranlasste. Tatsächlich hat der Rechtsstreit, der außergerichtlich beigelegt wurde, den sanften Forscher stets eher amüsiert als verärgert.
Genau diese humorvolle und unprätentiöse Art zeichnet ihn aus. Wenn Penrose heute mit seinem Gehstock über den Campus des mathematischen Instituts in Oxford spaziert, wo der Eingang in seinem Muster gekachelt ist, tuscheln Studierende ehrfurchtsvoll. Dabei zieht der größte Star am Himmel der Kosmolog*innen einfach weiter unbeirrt seine Kreise.
Am Tag, an dem bekannt wurde, dass er endlich den Nobelpreis bekommt, sagte Penrose zu einem Journalisten: „Es ist sehr schmeichelhaft, eine riesige Ehre und sehr geschätzt. Andererseits versuche ich gerade, drei wissenschaftliche Artikel gleichzeitig zu schreiben, und das macht das Arbeiten nun sehr schwer.“
Es braucht manchmal unerwartete Momente der Ruhe, damit man Außergewöhnliches denken und leisten kann. Auch das hat Penrose bewiesen. Und auch dafür muss man ihm dankbar sein.
Sir Roger Penrose
ist ein britischer Mathematiker. Für seine Arbeiten zu schwarzen Löchern bekam er 2020 den Nobelpreis für Physik.